Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
erkennen. So funktionierte das
System.
Als er aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, war ihm
paradoxerweise sein Irrtum aufgegangen.
Anfangs — als der Beschluß diktiert wurde und Sigurd Halvorsrud seinen Blick
zu dem Richter mit dem Bulldoggengesicht gehoben und begriffen hatte, daß
er wirklich nach Hause durfte — hatte sich seine ungläubige Erleichterung mit
einem hochmütigen Triumphgefühl gemischt: Der Gerechtigkeit war Genüge
getan worden.
Am ersten Abend zu Hause, als Thea endlich schlief, war ihm aufgegangen,
daß das alles nur eine Illusion war. Bei seinem Fall ging es nicht mehr um
Gesetz und Ordnung. Sein Leben, das seiner Tochter, das gesamte Dasein der
Familie Halvorsrud waren von einer Macht zerstört worden, die viel größer
war als Frau Justitias blinde Gerechtigkeit.
Sigurd Halvorsrud war stigmatisiert. Er hätte auch ein Kainszeichen auf der
Stirn tragen können. Als er in seinen eigenen Notizen blätterte — in eleganter
Handschrift beschriebene Blätter mit Analysen und Tatsachen von allem, was
er seit dem Mord an Doris bis zu dem Tag, als der Beschluß ergangen war,
durchgemacht hatte — sah er ein, daß er etwas unternehmen mußte.
Karen Borg hatte recht.
Richter Bugge hatte recht.
Die Polizei war sehr weit von einer Anklage entfernt. Und noch viel weiter von
einer Verurteilung. Wenn Sigurd Halvorsrud sich an die nackten Tatsachen
seines eigenen Falls hielt, sah er, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach nie
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mals vor einer Jury würde stehen müssen. Das machte ihn glücklich; es ließ
sein Blut brausen und seine Wangen brennen, bis er dann eifrig die Zeitungen
durchblätterte, die seine Schwägerin für ihn aufbewahrt und in chronologi-
scher Reihenfolge sortiert auf den Küchentisch gelegt hatte.
Sigurd Halvorsrud war bereits verurteilt worden.
Er war soeben auf freien Fuß gesetzt worden, aber dennoch war er für den
Rest seines Lebens verurteilt. Als er mit Brief- und Besuchsverbot in
Untersuchungshaft genommen worden war, waren ihm auch Zeitungen und
Radio entzogen worden. Er hatte alte Illustrierte und Taschenbücher gelesen
und das Schlimmste befürchtet. Doch die Wahrheit war schlimmer.
Sein Fall hatte zeitweise den Kosovokrieg in den Hintergrund gedrängt.
Sein Leben war wie ein Picassobild über die Zeitungsseiten verschmiert
worden; verzerrt und entstellt, unverhältnismäßig und in Farben, die er
einfach nicht wiedererkannte. Trotzdem war hier die Rede von ihm.
Unwiderruflich von ihm. Die Journalisten hatten seine gesamte Vergangenheit
durchwühlt. Er fuhr zusammen, als er ein seitengroßes Bild von sich selbst mit
Studentenmütze sah, sein nacktes, achtzehn Jahre altes Gesicht mit
vorgeschobenem Kinn und selbstsicherem Lächeln, als könne nichts ihn daran
hindern, bis zum Himmel emporzuklettern, während seine Augen eine
verletzliche Unsicherheit verrieten, die er noch nicht zu verbergen gelernt
hatte. Anonyme Schulkameraden, unsichtbare Kollegen, namenlose Nachbarn
- alle hatten sie bereitwillig und mit schlecht verhohlener Begeisterung, weil
sie endlich über etwas Wichtiges sprechen konnten, ihre Ansichten über den
Gattinnenmörder Sigurd Halvorsrud von sich gegeben. Stark und stur,
schleimig und jähzornig, schlau und unberechenbar, Familienfreund und
gesellschaftlicher Mittelpunkt; diese Charakteristiken brannten
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ihm in den Augen, und er klappte die Zeitungen zu und faltete sie zu dicken
Packen zusammen, die er dann in den folgenden zwei Stunden im Kamin
verbrannte.
Sigurd Halvorsrud hatte alles verloren.
Es gab nur eine Möglichkeit, um ihn und das, was von seiner Familie noch
übrig war, zu retten. Er konnte nicht einfach stillsitzen und hoffen, daß er
nicht verurteilt werden würde. Er mußte sich von seinem Stigma befreien. Nur
dann würde er auf volle Rehabilitation hoffen können. Nur so würden die
Zeitungen nach und nach zurücknehmen, was sie bisher geschrieben hatten,
und neue, positivere Artikel bringen. Nur so konnte er die Zeitungen zwingen,
sich später auf die Brust zu schlagen und zu sagen: »Schaut her! Wir haben die
ganze Zeit die Möglichkeit im Auge behalten, daß dieser Mann unschuldig ist.
Wir haben schon, als er noch in Untersuchungshaft saß, geschrieben, er sei ein
guter Familienvater und ein geachteter Kollege.«
Sigurd Halvorsrud mußte Doris' Mörder finden. Er wußte, wer der Mörder
war. Nämlich Stäle Salvesen.
Aus diesem Grund hatte er einen
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