Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
beobachtet hatte: eine Verzweiflung, die an Wut grenzte. Seine Augen
waren jetzt grau, sein Mund stand halboffen und sah resigniert aus, als wisse
er nicht, ob er sprechen oder schweigen solle.
»Bitte«, flehte er noch einmal.
Hanne rieb die Hände aneinander.
»Ich sehe ja ein, daß du gute Gründe für deine Verspätung hattest. Vergiß es.
Es wäre mir allerdings lieb, wenn du...«
Sie reichte ihm ein Blatt Papier und starrte aus dem Fenster.
»Ich brauche eine Übersicht über alle grotesken Morde der letzten zehn Jahre.
In Norwegen. Ich meine damit Verstümmelungen, abgeschnittene
Extremitäten, du weißt schon. Ich brauche Einzelheiten, Täter, Motive, Urteile
und so weiter. Und zwar sofort.«
Mehrere Sekunden lang herrschte vollständige Stille. Dann sprang Billy T. auf
und schlug mit beiden Fäusten auf die Tischplatte. Der Aschenbecher machte
einen Sprung und fiel zu Boden.
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»Der ist zerbrochen«, sagte Hanne trocken. »Ich gehe davon aus, daß du mir
einen neuen kaufst.«
Billy T. richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Weiße Halbmonde zeichneten
sich um seine Nasenflügel ab. Seine Wangen waren rotgefleckt, und seine
Augen füllten sich mit Wasser.
»Du bist jämmerlich«, spuckte er aus. »Du bist verdammt noch mal
jämmerlich, Hanne Wilhelmsen.«
»Zur Zeit kann ich deinen Ansichten über meine Person leider nicht viel Zeit
widmen«, erwiderte sie und strich sich die Haare aus der Stirn. »Ich
interessiere mich vor allem für Enthauptungen. Falls welche vorgekommen
sind, meine ich. Du kannst auch weiter in der Zeit zurückgehen. Und du
kannst Karl bitten, sich genauer mit Stäle Salvesen zu befassen. Ich will alles
wissen, was es über diesen Kerl zu wissen gibt. Und damit meine ich mehr als
das, was ihr hier zusammengescharrt habt...«
Sie schnippte mit den Fingern in Richtung der zwei Blätter mit spärlichen
Auskünften vom Einwohnermeldeamt.
»Als dieses jämmerliche Geschreibsel. Und noch etwas...«
Sie schaute ihm in die Augen. Er zitterte vor Wut, und sie empfand einen
Moment lang Befriedigung, als sie sah, daß seine Augen jeden Moment
überlaufen konnten.
»Ich schlage vor, daß wir unser Privatleben von jetzt an für uns behalten.
Jedenfalls im Dienst.«
Sie lächelte flüchtig und winkte gebieterisch mit der Hand, um ihm
klarzumachen, daß er entlassen war.
»Dismissed«, präzisierte sie, als er keinerlei Anzeichen von Gehorsam
erkennen ließ.
»Scheiße, du brauchst Hilfe«, fauchte er endlich und ging zur Tür.
»Schön, daß du eine Tochter hast«, sagte Hanne. »Das meine ich wirklich.
Grüß Tone-Marit von mir und richte ihr das aus.«
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Das Dröhnen der zugeknallten Tür hallte in ihren Ohren wider.
Es war Dienstag, der 9. März, nachmittags, und Hanne Wilhelmsen legte einen
stummen Eid ab. Sie würde das Rätsel um Oberstaatsanwalt Sigurd
Halvorsruds geköpfte Frau innerhalb von drei Wochen lösen. Oder höchstens
vier.
24
Die Kleine war willig und billig gewesen. Alles war rasch überstanden. Evald
Bromo stand am Hafenrand und starrte in das schwarze Wasser. Er war nicht
mutig genug.
Der Drang war zu stark gewesen. Margaret wähnte ihn in einem Seminar. Er
war einen Tag lang durch die Straßen gestromert, und obwohl er so lange wie
möglich versucht hatte, den Kiez zu vermeiden, war er am Ende dort gelandet.
Und danach im Hafen. Im Osten zeichnete sich jetzt ein schmaler Lichtstreifen
ab, und Evald Bromo brachte die Tage durcheinander. Er drehte sich um und
schaute auf. Uber ihm ragte drohend das Rathaus auf; dunkelgraue Konturen
vor einem schwarzen, Sternenlosen Himmel. Er versuchte den nötigen Mut
heraufzubeschwören, um den entscheidenden Schritt zurück zu machen, über
die Hafenmauer und in den Fjord.
Er schaffte es nicht.
Bis zum 1. September waren es noch fünf Monate und zweiundzwanzig Tage,
und er schaffte es nicht einmal, die Finger von kleinen Mädchen zu lassen.
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25
Sie fragte sich, warum Krankenhäuser immer nach Krankenhaus rochen.
Vielleicht war das so wie mit Abfall. Egal, was in einem Müllsack steckte,
Fleisch oder Gemüse, Windeln oder Fisch, alter Käse oder leere Milchkartons,
nach einigen Stunden roch alles gleich.
Hanne Wilhelmsen hatte sich krank gemeldet. Nachdem sie Beate im
Vorzimmer Bescheid gesagt und den Hörer aufgelegt hatte, mußte sie etwas
hinunterschlucken, das mit Schuldgefühlen Ähnlichkeit hatte. Sie hatte kein
Wort von Cecilie gesagt.
Cecilie hatte
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