Homicide
aus.
»Jay, du Schuft!«, sagt McLarney kopfschüttelnd.
Da muss selbst der Colonel lachen.
Montag, 9. Mai
Harry Edgerton braucht einen Mord.
Er braucht ihn noch heute.
Edgerton braucht eine Leiche, steif und still, eine Leiche in den Grenzen der Stadt Baltimore, erschossen, erstochen, erschlagen oder durch sonst ein menschliches Eingreifen ins Jenseits befördert. Er braucht ein Tagesprotokoll mit seinem Namen auf der untersten Linie, in einem rotbraunen Aktenordner, der bezeugt, das Harry Edgerton die Ermittlung leitet. Wie, Bowman ist zu einer Schießerei oben in Northeast gerufen worden? Sag ihm, er soll am Tatort warten, denn Harry Edgerton, sein Freund und Retter, sitzt schon im Cavalier und braust die Harford Road hinauf. Wie, die County Police nimmt in Woodlawn einen Mord auf? Scheucht den Hund über die Stadtgrenze und gebt den Fall an Harry Edgerton weiter. Wie, da ist ein ungeklärter Todesfall in einer Wohnung, ohne erkennbare Verletzungen oder gewaltsames Eindringen? Kein Problem. Lass Harry diesen Bad Boy aufnehmen, dennvielleicht stellt sich noch vor der Autopsie am nächsten Morgen heraus, dass es Mord war.
»Wenn ich nicht bald einen Mord kriege«, sagt Edgerton während er in der Dunkelheit des frühen Morgen auf der Frederick Road eine rote Ampel nach der anderen überfährt, »muss ich selbst jemanden umbringen.«
Seit zwei Wochen hängt Edgertons Name am Holzrahmen der Tafel, befestigt mit einer Heftzwecke und mit einer gewissen Bosheit auf gelbe Zettel gekritzelt, die das für den nächsten Einsatz abgestellte Team und die Detectives enthalten. Die täglichen Aushänge sind ein weiteres Zeichen für D’Addarios neue Vorgehensweise: Detectives, die weniger Mordfälle bearbeitet haben, werden dort als Kandidaten aufgeführt. Das betrifft vor allem Edgerton. Dass er in diesem Jahr lediglich zwei Fälle bearbeitet hat, sorgt nicht nur in seinem Team für Streit, es ist auch für D’Addario ein schwieriges Thema. Und so stach in den letzten zwei Wochen auf seinen Aushängen ein Name hervor: der von Harry Edgerton. Im Kaffeeraum machte man darüber so seine Witzchen.
»Wer ist heute dran?«
»Harry.«
»Mein Gott. Er wird bis Oktober brauchen, um alles aufzuarbeiten.«
Schon seit Tagen eilt Edgerton von Schießereien zu Messerstechereien, von zweifelhaften Todesfällen zu Drogentoten und hofft, dass sich einer dieser Fälle, ganz gleich welcher, als Mord erweist.
Bisher aber vergebens. An Tagen, an denen er drei, vier Einsätze betreut und von einem Ende der Stadt zum anderen rast, um Leichen zu begutachten, haben die anderen Detectives nur das Telefon zu beantworten und sind mit einem häuslichen Massaker und Doppel-Dunker gesegnet. Wird Edgerton zu einer Schießerei gerufen, kann er sicher sein, dass das Opfer überlebt. Fährt er zu einer scheinbaren Schlägerei mit Todesfolge, stellt der Rechtsmediziner eine Überdosis fest und führt die Verletzungen des Toten auf einen Sturz auf den Betonboden zurück. Betritt Edgerton eine Wohnung, in der es einen plötzlichen Todesfall gegeben hat, handelt sich ganz bestimmt um einen Achtundachtzigjährigen mit chronischem Herzleiden. D’Addario ist das alles herzlich egal. Edgerton bleibt auf der Liste, bis er einen Mord bearbeitet, wiederholt der Lieutenant. Wenn es sein muss, bis zur Rente.
Mittlerweile ist der Detective ziemlich reizbar. Als Faultier der Schicht und als Problemkind des Teams zu gelten, ist eine Sache. Dass Kincaid und Bowman und wer weiß wer sonst noch ihn nerven, man müsse die Last der Arbeit auf alle Schultern verteilen, bringt ihn normalerweise auch nicht aus der Fassung. Aber normal ist gar nichts mehr, denkt er, wenn ich in jeder verdammten Nacht zu drei Einsätzen ausrücken muss, und das, wie es scheint, bis zum Ende meiner Tage.
Wie dringend Edgerton einen Mord braucht, hat sich vor einer Woche gezeigt, als er in den Murphy Homes das Opfer einer Überdosis verfluchte und von der Leiche ein bisschen mehr als die bislang gezeigte Mitarbeit und Rücksichtnahme einforderte.
»Du erbärmlicher Wichser«, beschimpfte er den Toten vor den verwunderten Blicken zweier Wachmänner von der Sozialwohnungsbaubehörde. »Verdammt, wo hast du dir den Schuss gesetzt? Ich hab’ nicht den ganzen Tag Zeit, um mir deine blöden Arme anzusehen. Verflixt, wo ist der letzte Einstich?«
Es war nicht sein Ärger über die unauffindbare Einstichstelle, sondern Ausdruck der Frustration, die sich mit jedem neuen Einsatz angestaut hatte.
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