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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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rauchte oder nicht. Er bezweifelt, dass eine vierzigjährige Frau just zwei Monate vor ihrem Tod das Rauchen angefangen haben soll. Dann fragt er Lenas Tochter, ob sie ihre Zeugenaussage mit dem Staatsanwalt besprochen habe – offenbar will er bei den Geschworenen den Verdacht schüren, sie sei beeinflusst worden. Ein kluger Schachzug; wieder einmal beweist Polansky, dass er sein Geld wert ist. Trotzdem, als Henriette Lucas nach fünf Minuten den Zeugenstandverlässt, stellt die Schachtel Zigaretten keine große Gefahr mehr dar.
    Nächster Zeuge der Anklage ist John Smialek, der den Autopsiebericht referiert und die Art der Verletzungen schildert. Als Beweismittel werden zugleich eine Reihe Schwarz-Weiß-Fotos vorgelegt, auf denen die Wunden der Toten in aller Deutlichkeit zu sehen sind. Stärker noch als auf Tatortfotos zeigen diese klinisch sterilen Aufnahmen der fest über dem Autopsietisch in der Penn Street installierten Kamera die exzessive Gewalt: drei Schusswunden – eine in der linken Gesichtshälfte mit deutlichen Schmauchspuren, eine in der Brust, eine im linken Arm; elf Stichwunden im Rücken, dazu kleinere Schnitte am Hals und Unterkiefer; Abwehrwunden an der rechten Handfläche. Lena Lucas erhält ihren Auftritt vor Gericht in Form von zehn drastischen Fotos, die gegen den anhaltenden Protest von Robert Fraziers Anwalt als Beweismittel zugelassen wurden.
    Doch die Zeugeneinvernahme des Vormittags bildet nur den Auftakt zur eigentlichen Schlacht – dem Ringen um Glaubwürdigkeit der Aussagen, das später beginnt, als eine siebzehnjährige, ziemlich ängstliche Schülerin an Frazier vorbei zum Zeugenstand geht.
    Romaine Jackson zittert am ganzen Leib, als sie den Eid ablegt, was den Geschworenen nicht entgeht. Sie sitzt schüchtern auf ihrem Stuhl, die Hände im Schoß, den Blick fest auf Doan geheftet. Sie vermeidet es, in Richtung des großen, dunkelhäutigen Manns auf der Anklagebank zu schauen. Doan fürchtet schon, sein Albtraum könnte wahr werden – dass seine Zeugin, seine wichtigste Zeugin, der Situation nicht gewachsen ist. Er sieht es schon kommen, dass sie keinen Ton herausbringt, die Wahrheit ungesagt bleibt, sie sich an nichts erinnern kann, was sie in den Befragungen vor dem Prozess gesagt hat. Das wäre nicht bloß verständlich, sondern sogar verzeihlich, schließlich darf sie nach den Gesetzen des Bundesstaates Maryland weder wählen noch sich ein Bier kaufen. Und doch verlangt der Staatsanwalt von ihr, in einem öffentlich geführten Prozess einen Mordverdächtigen zu identifizieren.
    »Mein Name ist Romaine Jackson«, gibt sie dem Gerichtssekretär leise zu Protokoll. »Ich wohne West Pratt Street 1606.«
    »Miss Jackson«, sagt Doan in freundlichem und beruhigendem Ton,»wenn Sie etwas lauter sprechen könnten, damit die Damen und Herren Geschworenen Sie besser hören.«
    »Ja, Sir.«
    Ganz langsam und so behutsam wie möglich stellt Doan die Einleitungsfragen, bevor er auf jenen Abend in der Gilmor Street zu sprechen kommt, als sie kurz vor dem Einschlafen aus ihrem Fenster im zweiten Stock auf die Straße schaute. Die Antworten der jungen Frau sind tonlos und einsilbig. Der Gerichtssekretär muss sie wiederholt bitten, ins Mikrofon zu sprechen.
    »Haben Sie irgendwann Ihre Nachbarin Charlene Lucas vor dem Haus gesehen?«, fragt Doan.
    »Ja.«
    »Würden Sie den Damen und Herren Geschworenen sagen, wann das war?«
    »Kurz vor zwölf.«
    »War sie allein, oder war sie in Begleitung?«
    »Mit einem Mann.«
    »Sehen Sie diesen Mann heute hier im Gerichtssaal?«
    »Ja, Sir«, antwortet das Mädchen.
    »Könnten Sie uns die Person zeigen?«
    Romaine Jacksons Augen lösen sich eine halbe Sekunde vom Staatsanwalt, gerade so lange, um ihrer rechten Hand zu folgen, die in Robert Fraziers Richtung deutet.
    »Der da«, sagt sie leise, die Augen sofort wieder auf Doan geheftet.
    Der Staatsanwalt arbeitet sich langsam voran. »Könnten Sie uns beschreiben, wie der Angeklagte an jenem Abend aussah?«
    »Groß, dunkelhäutig, schlank«, sagt sie.
    »Was trug er an jenem Abend?«
    »Ein schwarzes Sakko. So eins wie jetzt.«
    »Trug er eine Kopfbedeckung?«
    »Ja.«
    »Von welcher Farbe?«
    »Weiß«, sagt sie, »mit so einem Druckknopf vorne auf dem Schirm.«
    Nun kommen ihr die Tränen, gerade so viel, dass man es bemerkt, aber nicht genug, dass sich Doan veranlasst sieht, die Befragung zu unterbrechen. Von den Fragen des Staatsanwalts geführt, erzählt sie demGericht, wie Lena und der große

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