Homicide
an der jungen Frau der linke BH-Träger und ein Stück des Körbchens zu sehen sind. Sie haben den Pullover auf der Suche nach der frischen Einstichstelle ein wenig über den Arm heruntergezogen. Waltemeyer beugt sich über das Opfer und zupft in letzter Sekunde den Pullover wieder sanft über ihre Schulter.
Es ist nur eine kleine, aber ungewöhnliche Geste für einen Detective – ungewöhnlich, weil das Konzept des Privaten normalerweise schon nach ein paar Monaten Arbeit im Morddezernat seine Bedeutung verliert. Wie sollte es auch anders sein, wenn man immer wieder als Fremder, als Eindringling, die letzten Minuten eines Menschen auf Erden begutachtet? Was könnte weniger privat sein als ein Leichnam, den man in der Autopsie zerschneidet, oder ein Schlafzimmer, in das man mit einem Durchsuchungsbefehl eindringt, oder ein Abschiedsbrief, den man überfliegt, kopiert und an den Polizeibericht heftet? Nach ein oder zwei Jahren an vorderster Front kann ein Detective über so etwas wie Privatsphäre nur noch Witze reißen. Die Privatsphäre ist das Erste, was der Polizeiarbeit zum Opfer fällt, noch vor Mitleid, Offenheit und Einfühlungsvermögen.
Zwei Monate zuvor hatte Mark Tomlin den ersten und bislang einzigenautoerotischen Todesfall des Jahres erwischt. Es handelte sich um einen Ingenieur, Ende dreißig, der in lederner Reizwäsche auf seinem Bett lag und unter einer Plastiktüte erstickt war. Es gab allerlei Hebel zur Regulierung der Verschnürungen, mit denen sich das Opfer gefesselt hatte, und eine Armbewegung in eine bestimmte Richtung hätte ihm genügt, um sich zu befreien. Ehe er dazu kam, war er jedoch dummerweise ohnmächtig geworden – eine Folge der Plastiktüte, die er sich über den Kopf gezogen hatte, um in seinem Gehirn einen Sauerstoffmangel auszulösen, eine Methode, die angeblich die erotischen Empfindungen bei der Masturbation steigert. Dieses Schlafzimmer war schon ein seltener Anblick, und Tomlin ließ es sich natürlich nicht nehmen, die Polaroids unter allen Kollegen herumzuzeigen. Der arme Teufel wirkte ziemlich dämlich, wie er da in seinem Lederslip vor sich hinfaulte, die Arme hinter dem Kopf gefesselt, die Füße an den großen Zehen mit Schellen zusammengekettet, und Bondage-Magazine auf der Kommode ausgebreitet. Eine bizarre Szene, die einem ohne die Fotos niemand geglaubt hätte. Privatsphäre und Würde hatten hier kaum eine Chance.
Beinahe jeder Detective hatte schon zwei- oder dreimal erlebt, dass Angehörige noch versuchten, eine Leiche anzukleiden – meist aus Gründen der Schicklichkeit, weniger in Täuschungsabsicht. Und fast jeder Detective hatte ein Dutzend Fälle von Überdosis untersucht, in denen Mütter und Väter es für besser hielten, vor Ankunft des Krankenwagens das Spritzbesteck zu beseitigen. Bei einem Selbstmord hatten sich die Eltern einmal sogar die Mühe gemacht, sorgfältig eine gefälschte Version des Abschiedsbrief zu erstellen, um eine ihnen peinliche Enthüllung zu unterdrücken. Die Welt lässt eben niemals von ihren Werten und Normen ab, auch wenn sie für die Toten keine Bedeutung mehr haben. Und die Welt verlangt auch stets nach ein wenig Würde, ein wenig Schicklichkeit, während die Cops immer nur nach dem Leichenwagen verlangen – zwischen beidem liegt ein Abgrund, der einfach nicht zu überbrücken ist.
Im Morddezernat von Baltimore ist Privatsphäre nur ein leerer Begriff. Schließlich herrscht hier ein Umgangston wie in der Umkleidekabine eines Sportvereins. Es ist eine von Männern dominierte Vorhölle, in der sechsunddreißig Detectives und Detective Sergeants im Lebender anderen herumstolpern und Witze darüber reißen, wenn die Ehe des einen in die Brüche geht oder ein anderer zu saufen anfängt.
Detectives eines Morddezernats sind keineswegs gefühlloser als der Rest der Amerikaner mittleren Alters, aber die Tatsache, dass sie ihr Leben damit zubringen, in den Geheimnissen anderer herumzuwühlen, hat zur Folge, dass sie wenig Respekt vor ihren eigenen haben. Wenn es tagaus, tagein um Mord geht, verlieren die lässlicheren Sünden an Bedeutung. Sich volllaufen lassen und den Familienkombi auf der Landstraße zu Schrott fahren, das kann jeder, doch nur ein Detective eines Morddezernats bringt es fertig, seinen Kollegen den Vorfall in einer ausgewogenen Mischung aus Prahlerei und Verlegenheit zu erzählen. Jeder kann irgendwo in einer Bar eine Frau aufreißen, doch nur der Detective eines Morddezernats schildert später einem
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