Homicide
Wohnblocks. Wenn der Mörder ein solches Gelände für seine Tat wählt, dann minimiert er das Risiko der Sicherstellung von Spuren wie das von Zeugen. Und so kann man in Baltimore nicht selten einen Polizisten am Telefon aufstöhnen hören, wenn ihm der Fund einer Leiche hinter den Häusern eines Blocks gemeldet wird.
Es gibt allerdings ein Szenario, vor dem sich ein Detective noch mehr fürchtet: Wenn die Leiche im Unterholz am Westrand der Stadt gefunden wird. Dann kann er davon ausgehen, dass nicht nur ein sehr übles Verbrechen begangen wurde, sondern auch, dass Profis am Werk waren. Schon seit zwei Generationen ist Leakin Park Baltimores Endstation für viele, die dieses irdische Jammertal mit einer Kugel oder einer Klinge im Leib verlassen. Es handelt sich um ein ausgedehntes, dicht bewachsenes Areal an den Ufern eines Flüsschens mit Namen Gywnns Falls. Dort hat es schon so viele nicht genehmigte Bestattungen gegeben, dass ernsthaft überlegt wurde, Leakin Park in einen städtischen Friedhof umzuwidmen. In New York benutzt man für diesen Zweck die Sümpfe von New Jersey oder die Wasserläufe der Stadt, in Miami die Everglades, in New Orleans den Bayou. In Baltimore entsorgt man lästige Leichen gerne entlang der kurvenreichen Böschungen der Franklintown Road. Einer häufig kolportierten Geschichte zufolge soll ein Trupp Polizeischüler, die einen Quadranten von Leakin Park nach einer vermissten Person absuchen sollten, vom Schichtleiter des Southwestern District spaßeshalber ermahnt worden sein, nur nach einer Leiche Ausschau zu halten, auf die die Beschreibung passe: »Wenn ihr euch nach jeder bückt, die ihr hier findet, sind wir heute Abend noch nicht fertig.«
Erfahrene Detectives erklären hingegen, dass selbst der unscheinbarste Tatort irgendwelche Informationen über das Verbrechen preisgibt. Auch bei einem Mord auf einem Hinterhofgelände stellen sich automatisch Fragen: Was hat der Tote oder die Tote dort gemacht? Woherist er oder sie gekommen? Mit wem? Wenn man es jedoch bloß mit dem Fundort einer Leiche zu tun hat, ist es egal, ob es sich dabei um ein Hofgelände, ein leeres Haus oder den Kofferraum eines Autos handelt, dann hat man gar nichts in der Hand. Ein solcher Ort stellt keine Beziehung zwischen dem Mörder und dem Opfer her. Eine abgelegte Leiche löscht nicht nur die Chronologie eines Mordes aus, sondern auch beinahe sämtliche Spuren, mit Ausnahme jener, die mit der Leiche abgelegt wurden.
Was der Tatort als Ausgangspunkt für die Ermittlungen in einem Mordfall aber letztlich bringt, egal, wie er beschaffen ist oder wo er liegt, hängt stark vom Detective ab – von seinem Geschick, die Schaulustigen fernzuhalten und den Tatort intakt zu halten, seiner Fähigkeit, zu beobachten, den Überblick zu behalten und gleichzeitig auch die Details nicht aus dem Auge zu verlieren, und seinem gesunden Menschenverstand, der Maßnahmen vermeidet, die zu nichts führen.
Es ist ein subjektiver Prozess. Der beste Ermittler wird zugeben, dass er ganz unabhängig davon, wie viele Spuren am Fundort einer Leiche oder an einem Tatort sichergestellt wurden, immer mit dem unangenehmen Gefühl ins Morddezernat zurückkehrt, dass etwas versäumt wurde. Diese Tatsache versuchen erfahrene Detectives jungen Kollegen stets einzuschärfen. Sie zeigt deutlich den empfindlichen Charakter des Tatorts.
Was geschieht, bevor der Tatort gesichert ist, entzieht sich jeder Kontrolle, und den uniformierten Polizisten, dem Rettungspersonal oder den zufällig Anwesenden, die den Schauplatz der Tat in ihren Bemühungen, den Täter zu überwältigen oder dem Opfer Hilfe zu leisten, verändern, kann man schwerlich Vorschriften machen. Das sind unvermeidliche Aktionen. Doch abgesehen davon ist es die Aufgabe des ersten Uniformierten, der am Schauplatz eines Verbrechens eintrifft, dafür zu sorgen, dass weder Schaulustige noch die eigenen Leuten dort herumtrampeln. Und zur guten Polizeiarbeit gehört es auch, dass die ersten Polizisten, die am Ort des Geschehens eintreffen, die möglichen Zeugen unter den Gaffern herauspicken.
Mit dem Eintreffen des ersten Detective aus dem Morddezernat ist der erste Polizist, der am Tatort war, seine Verantwortung los. Wenn der Detective sein Geschäft beherrscht, wird er erst einmal das Tempoherausnehmen, bis alles im Schneckentempo läuft, was schon mal die gröbsten Schnitzer verhindert. Je komplexer der Tatort ist, desto langsamer ist das Vorgehen, was dem Detective so etwas wie
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