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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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nicht. Da der Sergeant dabei blieb, dass er außer dem Schuss nichts gehört und gesehen habe, blieb den Ermittlern nur noch die Möglichkeit, dass ein anderer Cop oder ein Anwohner etwas von dem Schuss oder den Augenblicken danach mitbekommen hatte. Und nun, da sich diese Möglichkeit tatsächlich zu realisieren schien, drohte ein Zeitungsartikel ihren einzigen Zeugen zum Verstummen zu bringen.
    Trotzdem, sollte tatsächlich ein Polizist John Scott getötet haben, dann handelte es sich kaum um vorsätzlichen Mord. Womöglich war es zu einem Kampf auf dem Weg gekommen, einer Rangelei, die damit endete, dass ein Polizist vielleicht unrechtmäßig von seiner Schusswaffe Gebrauch machte, vielleicht auch von einer anderen 38er, die er John Scott entwand. Schon liegt der Gesuchte mit einer Schusswunde im Rücken am Boden, der Cop gerät in Panik, das Adrenalin schießt ihm in die Adern, und er überlegt fieberhaft, was er in seinem Bericht schreiben soll, um aus dieser Geschichte wieder rauszukommen.
    Wenn ein Streifenpolizist die Flucht ergriff, weil er nicht daran glaubte, dass die Polizei ihn rauspauken wird, dann war es ein Vorfall, der früher oder später eintreten musste. Dann stellte der Vorfall in der Monroe Street den Endpunkt eines Abwärtstrends dar, in dem sich die Polizei von Baltimore schon seit Langem befand. Donald Worden musste es wissen, er hatte die Talfahrt von Anfang an mitgemacht und dabei so manches erlebt.
    Worden hatte nur ein einziges Mal in seiner langen Laufbahn imDienst von der Schusswaffe Gebrauch gemacht und eine 38er-Rundkopfpatrone als Warnschuss in die Luft gefeuert, der niemandem etwas zuleide tun konnte. Das war vor zwanzig Jahren gewesen, an einem Sommertag. Er und sein Partner waren zufällig Augenzeugen eines Raubüberfalls in Pimlico geworden – sie hatten den Räuber wirklich einmal auf frischer Tat ertappt. Nachdem sie in ihrem Pflichteifer den Täter länger verfolgt hatten, als es jeder durchschnittliche Cop für vernünftig hält, hatte Wordens Partner zu schießen begonnen. Worden, der sich irgendwie solidarisch zeigen wollte, hatte daraufhin ein Projektil in den Äther gejagt.
    Worden kannte natürlich den Kerl, dem sie auf den Fersen waren, genauso wie der Worden kannte. Das war in jenen goldenen zwölf Jahren, die der Big Man in Northwest verbrachte, damals, als zwischen den Akteuren noch eine raue Herzlichkeit herrschte und Worden alle Halunken mit Vornamen anredete. Als die Schüsse die Verfolgungsjagd beendet und sie ihr Opfer eingeholt hatten, zeigte sich der Räuber hellauf entsetzt.
    »Donald«, sagte er, »das kann doch nicht wahr sein!«
    »Was?«
    »Du hast versucht, mich umzubringen!«
    »Nein, habe ich nicht.«
    »Du hast auf mich geschossen!«
    »Ich habe über deinen Kopf gezielt«, antwortete Worden betreten. »Hör mal, es tut mir leid, okay?«
    Worden verlor nie seine Abneigung gegen Schießereien, selbst dieser eine Schuss ins Blaue blieb ihm immer peinlich. Er stützte seine Autorität auf seine Marke und den Ruf, den er sich auf der Straße erworben hatte. Seine Pistole hatte damit kaum etwas zu tun.
    Trotzdem war es richtig, dass Detective Worden dem Mordfall John Randolph Scott zugeteilt wurde. In über einem Vierteljahrhundert auf den Straßen hatte er mehr als genug Fälle erlebt, in denen Polizisten von ihrer Dienstwaffe Gebrauch machten. Meist war es gerechtfertigt gewesen, manchmal etwas weniger, in einigen Fällen gar nicht. Solche Situationen entschieden sich in Bruchteilen von Sekunden. Oft genug war es reiner Instinkt, wenn sich ein Finger um den Abzug krümmte. Meist war dem Schützen nichts anderes übrig geblieben, als dem Tatverdächtigeneine Kugel zu verpassen, manchmal wäre es nicht nötig gewesen, manchmal konnte man darüber streiten. Es gab auch Fälle, in denen hätte es der Täter verdient, von Kugeln durchsiebt zu werden, und trotzdem geschah es nicht.
    Die Entscheidung zum Einsatz einer tödlichen Waffe war unvermeidlich subjektiv und hing weniger von klar definierten Umständen als von dem ab, was ein Officer vor seinem Gewissen und in seinem Bericht rechtfertigen konnte. Doch wie auch immer die Umstände sind, ein Grundsatz gilt unerschütterlich: Wenn ein Cop auf jemanden schießt, dann steht er dazu. Er greift zum Funkgerät und macht Meldung. Und notfalls liefert er die Leiche ab.
    Aber die Zeiten haben sich geändert. Vor einem Vierteljahrhundert konnte ein amerikanischer Gesetzeshüter noch sorglos seine Waffe abfeuern,

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