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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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ohne überhaupt einen Gedanken daran zu verschwenden, ob er den Tatverdächtigen von vorne oder von hinten traf. Heute setzt sich ein Cop schon beim Ziehen der Waffe dem Risiko einer Schadenersatzklage und strafrechtlicher Verfolgung aus. Was die frühere Generation von Streifenbeamten problemlos rechtfertigen konnte, das bringt die heutige oft genug auf die Anklagebank. Nicht nur in Baltimore, in allen amerikanischen Städten haben die alten Regeln ihre Gültigkeit verloren, weil sich die Situation auf den Straßen geändert hat. Die Polizei ist nicht mehr das, was sie einst war. Und die Stadt selbst natürlich auch nicht.
    1962, als Donald Worden von der Polizeiakademie kam, gab es zwischen beiden Seiten noch ein stillschweigendes Einverständnis. Wer sich an einem Polizisten vergriff, der musste eben damit rechnen, dass ohne viel Federlesens auf ihn geschossen wurde. Das galt erst recht, wenn jemand dumm genug war, auf einen Polizisten zu schießen. So jemand hatte nur eine Chance: sich schleunigst auf der nächsten Wache zu stellen. Prügel waren ihm dort sicher, aber er rettete damit sein Leben. Wenn er aber untertauchte und unter Umständen aufgespürt wurde, die man so hinbiegen konnte, dass sie einen schlüssigen Bericht ermöglichten, dann garantiert nicht.
    Aber das war eine andere Zeit gewesen, eine Zeit, in der ein Cop im Brustton der Überzeugung sagen konnte, er sei Mitglied der größten, härtesten und am besten bewaffneten Gang von Baltimore. Das warendie Tage, als das Dealen mit Heroin und Koks noch nicht das Leben in den Ghettos bestimmte, als man noch nicht in jedem zweiten siebzehnjährigen Halbstarken einen Soziopathen mit einer 9mm im Bund seiner Jogginghose vermuten musste, als die Polizei den Drogenhändlern noch nicht ganze Viertel in der Innenstadt kampflos überließ. Es waren auch die Tage, in denen es in Baltimore noch die Rassentrennung gab. Die schwarze Bürgerrechtsbewegung hatte gerade erst angefangen, ihre Stimme zu erheben.
    Es lässt sich nicht leugnen, dass die meisten Fälle von Schusswaffengebrauch der Polizei in dieser Zeit rassistische Untertöne hatten – eine Tatsache, die auf oft tödliche Weise bewies, dass für die Schwarzen in den innerstädtischen Bezirken von Baltimore die Gesetzeshüter nur eine Plage unter anderen darstellten: Armut, mangelnde Bildung, Verzweiflung, Polizei. Die schwarze Bevölkerung von Baltimore wuchs mit dem Bewusstsein auf, dass man zwei Dinge besser nicht tat: einem Bullen widersprechen oder gar vor ihm davonlaufen. Wenn man Glück hatte, wurde man bloß zusammengeschlagen, wenn man Pech hatte, bekam man eine Kugel ab. Selbst die prominentesten Mitglieder der schwarzen Gemeinde waren Herabsetzungen und Beleidigungen ausgesetzt. Kein Wunder, dass vor den 1960er-Jahren die Polizei von der schwarzen Bevölkerung durchweg verachtet wurde.
    Selbst innerhalb der Polizei stand es nicht besser. Als Worden anfing, durften schwarze Polizisten (unter ihnen zwei zukünftige Polizeichefs) nicht einmal im Streifenwagen mitfahren – es war ihnen per Gesetz verboten, wie es auch sonst in ganz Maryland eine strenge Rassentrennung gab. Schwarze Polizisten hatten nur sehr begrenzte Aufstiegschancen und wurden hauptsächlich als Fußstreife in den Slums oder als verdeckte Ermittler in den im Entstehen begriffenen Drogendezernaten eingesetzt. Auf der Straße richteten die weißen Kollegen niemals das Wort an sie, auf der Wache wurden sie beim Appell und Schichtwechsel mit rassistischen Bemerkungen traktiert.
    Das alles änderte sich nur sehr langsam. Treibende Kraft war neben dem Engagement der schwarzen Gemeinde der neue Polizeipräsident Donald Pomerleau, ein ehemaliger Marine, der 1966 in Baltimore sein Amt antrat. Er übernahm das Ruder mit dem Auftrag, für klar Schiff zu sorgen. Ein Jahr zuvor hatte Pomerleau im Auftrag der unabhängigenInternational Association of Chiefs of Police den Ordnungshütern von Baltimore ein niederschmetterndes Zeugnis ausgestellt. In einer Studie kam er zu dem Schluss, dass die Polizeibehörde der Stadt zu den rückständigsten und korruptesten in ganz Amerika gehörte, dass sie unverhältnismäßig von Gewalt Gebrauch machte und keinerlei Beziehungen zur schwarzen Bevölkerung der Stadt unterhielt. Die Rassenunruhen des Jahres 1965 in Watts, einem Stadtteil von Los Angeles, waren den Stadtoberen noch frisch im Gedächtnis. Im Sommer drohten in allen größeren Städten solche Unruhen, sodass sich der Gouverneur von Maryland und

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