Hongkong 02 - Noble House Hongkong
du mit Penn nach England fährst. Dort oder in Europa muß es Spezialisten geben. Eine Heilung ist sicherlich möglich, Kathy.«
»Leider nicht, mein Lieber. Aber England ist eine gute Idee. Dr. Tooley hält es für vorteilhaft, wenn ich wegen einer Behandlung mit einem Spezialisten in der Harley Street spreche. Ich würde sehr gern mit Penn fahren. Die Krankheit ist noch nicht allzusehr fortgeschritten, und wenn ich vorsichtig bin, müssen wir uns nicht zu große Sorgen machen.«
»Und was heißt das?«
»Das heißt, daß ich auf mich achtgeben, die Medikamente nehmen und ein Nachmittagsschläfchen halten muß, um nicht zu müde zu werden. Dann kann ich mich immer noch um Andrew und das Haus und die Kinder kümmern und gelegentlich auch Golf oder Tennis spielen, aber nur eine Runde am Vormittag. Weißt du, sie können die Krankheit zum Stillstand bringen, aber nicht die bis jetzt eingetretenen Schäden heilen. Er sagt, wenn ich nicht auf mich achtgebe und mich ausruhe – es geht vor allem um die Ruhe, meint er – wenn ich mich nichtausruhe, kommt ein neuer Schub.«
Er starrte sie an und unterdrückte den Schmerz, den er für sie empfand. »Nun, Gott sei Dank kannst du soviel Ruhe haben, wie du willst«, antwortete er. »Hast du etwas dagegen, wenn ich mit Tooley spreche?«
»Aber nein. Du mußt dir keine Sorgen machen, Ian. Er hat gesagt, daß alles in Ordnung ist, wenn ich auf mich achtgebe, und ich habe ihm versprochen, so brav zu sein, daß er sich deshalb überhaupt keine Gedanken machen muß.« Kathy war überrascht, weil ihre Stimme so ruhig klang. Sie konnte beinahe spüren, wie die Bazillen oder Viren der Krankheit in ihr Nervensystem eindrangen, ihre Nervenfasern langsam auffraßen, Sekunde um Sekunde, Stunde um Stunde, bis ihre Finger und Zehen noch gefühlloser wurden, und dann ihre Gelenke und Knöchel und Beine und und und – o Jesus, allmächtiger Gott … »Es ist schrecklich schwül heute, nicht wahr?«
»Ja. Wie ist das nur so plötzlich gekommen?«
»Es kam gar nicht so plötzlich. Sie konnten es nur nicht diagnostizieren. Deshalb haben sie die vielen Tests gemacht.« Es hatte vor etwa sechs Monaten mit leichtem Schwindel und Kopfschmerzen begonnen. Weder Aspirin noch stärkere Mittel halfen. Dann hatte der liebe alte Tooley, ihr Hausarzt, sie in das Matilda-Spital auf dem Peak zu Tests und weiteren Tests und Gehirnuntersuchungen geschickt, für den Fall, daß sie einen Tumor hätte, aber man hatte nichts entdecken können. Erst die scheußliche Rückenmarkspunktion erbrachte den Hinweis, den weitere Tests dann bestätigten. Gestern. O Gott, war es erst gestern, daß sie mich zum Rollstuhl verurteilt haben, in dem ich schließlich ein hilfloses, sabberndes Ding sein werde?
»Hast du es Andrew gesagt?«
»Nein, noch nicht. Ich konnte es noch nicht. Der arme Andrew verliert so leicht den Kopf. Ich werde es ihm heute abend erzählen. Ich mußte es zuerst dir sagen. Das haben wir ja immer so gehalten, nicht wahr? Lecchie, Scotty und ich. Du warst immer der erste, der etwas erfuhr …« Sie erinnerte sich an ihre Jugendzeit, an die glücklichen Tage hier in Hongkong und in Ayr auf Schloß Avisyard, an ihr entzückendes, altes, weitläufiges Haus im Heidekraut auf dem Gipfel des Hügels, oberhalb des Meeres – Weihnachten und Ostern und die langen Sommerferien, sie und Ian – und Lecchie, der älteste, und Scott, ihr Zwillingsbruder – sie waren so glücklich, wenn Vater nicht da war, alle hatten Angst vor Vater, außer Ian, der immer ihr Sprecher, immer ihr Beschützer war, der immer die Strafe auf sich nahm – kein Abendessen, und schreib hundertmal: Ich werde nicht mehr widersprechen, ein Kind soll man sehen, aber nicht hören …
»Ach Ian«, sagte sie, und plötzlich stiegen ihr Tränen in die Augen. »Es tut mir so leid.« Dann spürte sie, wie seine Arme sie umschlangen, und endlich fühlte sie sich geborgen, und der Alptraum verblaßte. Aber sie wußte, daß er nie aufhören würde.
Niemals. Ihre Brüder würden nicht zurückkommen, außer in ihren Träumen, und auch nicht ihr geliebter Johnny. »Es ist schon in Ordnung, Ian«, meinte sie unter Tränen. »Es ist nicht meinetwegen, wirklich nicht. Ich habe nur an Lecchie und Scotty gedacht und an unser Haus in Ayr.«
Lecchie war der erste, der gestorben war. Leutnant in der Highland Light Infantry.
Er wurde 1940 in Frankreich als vermißt gemeldet. Man fand nie eine Spur von ihm.
Eben hatte er noch am Straßenrand
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