Hongkong 02 - Noble House Hongkong
lässig. Seine Ungezogenheit fiel allen auf. »Sieh einer an, Marlowe! Sie haben sich nicht sehr verändert.«
»Sie auch nicht. Sie haben Karriere gemacht.« Und an die anderen gewandt, fügte Marlowe hinzu: »Wir waren zusammen im Krieg. Ich habe Mr. Grey seit 1945 nicht mehr gesehen.«
»Wir waren Kriegsgefangene, Marlowe und ich«, sagte Grey. »Auf dem politischen Parkett stehen wir in entgegengesetzten Ecken. Marlowe, alter Knabe, sind Sie immer noch im Geschäft?« Es war eine nur für Engländer verständliche Beleidigung.
Für einen Mann wie Marlowe, der einer alten englischen Offiziersfamilie entstammte, bedeutete »Geschäft« alles Vulgäre und Letztklassige.
»Ich bin Schriftsteller«, antwortete Marlowe.
»Ich dachte, Sie seien immer noch in der R.A.F. aktiver Offizier wie Ihre illustren Vorfahren.«
»Ich wurde wegen Dienstunfähigkeit entlassen. Malaria und alle möglichen Folgeerscheinungen. Verteufelt scheußliche Geschichte! Und Sie sitzen also jetzt im Unterhaus? Wie klug von Ihnen! Sie vertreten den Bezirk Streatham East? Wurden Sie da nicht auch geboren?«
Blut schoß Grey ins Gesicht. »Ja, das ist richtig …«
Shiteh entzog sich der durch die gegenseitigen Unterströmungen hervorgerufenen Peinlichkeit. »Ich muß mich um das Dinner kümmern«, murmelte er und eilte davon. Die anderen chinesischen Herren entschuldigten sich und gingen auf die Suche nach ihren Damen.
Fleur Marlowe fächelte sich Kühlung zu. »Vielleicht sollten auch wir uns an unseren Tisch begeben, Peter.«
»Eine gute Idee, Mrs. Marlowe«, nickte Grey. Er hatte sich ebenso fest in der Hand wie Peter Marlowe. »Was macht King?«
»Das weiß ich nicht. Seit Changi habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
»Eigenartig, wo Sie doch so gute Freunde waren!« Grey richtete seinen Blick auf Fleur Marlowe. Sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte. So hübsch und zart und englisch, so wie seine Exfrau Trina, die sich kaum einen Monat, nachdem er als vermißt gemeldet worden war, einen Amerikaner geangelt hatte. »Wußten Sie, daß wir in Changi Feinde waren, Mrs. Marlowe?« fragte er mit einer Liebenswürdigkeit, die sie erschreckte.
»Peter hat mit mir nie über Changi gesprochen, Mr. Grey. Soviel ich weiß, auch sonst mit niemandem.«
»Seltsam. Es war ein Erlebnis, das uns stark und nachhaltig beeindruckte. Ich habe nichts vergessen … ich … tut mir leid, daß ich Sie unterbrochen habe.« Er streifte Marlowe mit einem Blick und ging davon.
»Peter, was für ein schrecklicher Mensch!« brach es aus ihr heraus. »Es überlief mich eiskalt. Warum wart ihr verfeindet?«
»Nicht jetzt, mein Herz, später!« Marlowe lächelte ihr liebevoll zu. »Grey hat nichts mit uns zu schaffen.«
10
21.45 Uhr:
Linc Bartlett erblickte Orlanda, bevor sie ihn sah, und es verschlug ihm den Atem.
Orlanda trug ein bodenlanges weißes Seidenkleid mit tiefem Rückenausschnitt und Halsträgern, das ihren golden schimmernden Körper irgendwie, wenn auch diskret, zur Schau stellte. Casey, ihr lohfarbenes Haar kaskadenartig herabfallend, trug ihr Grünes, das er schon oft gesehen hatte.
»Wollen Sie beide nicht heute abend zu Shi-tehs Empfang kommen?« hatte Orlanda ihn am Vormittag gefragt. »Für Sie und Ihre Casey könnte es nützlich sein, dort gesehen zu werden, denn in Hongkong kommen so ziemlich alle großen Geschäfte bei solchen Feten zustande. Es könnte für Sie sehr wichtig sein, Leute wie Shiteh kennenzulernen und von ihnen in den Jockey-Club, Cricket-Club, ja sogar in den Club eingeführt zu werden, obwohl das im Moment unmöglich ist.«
»Weil ich Amerikaner bin?«
»Weil erst jemand sterben muß, um Platz für ein neues Mitglied zu machen – ein Engländer oder ein Schotte. Die Warteliste ist so lang wie die Queen’s Road. Der Club ist nur für Männer, sehr verstaubt, alte Lederfauteuils, The Times, und was so dazugehört.«
»Teufel, das klingt aufregend!«
Sie hatte gelacht. Ihre Zähne waren weiß, und er konnte keinen Makel an ihr entdecken. Sie hatten gemeinsam gefrühstückt, und es hatte ihm Freude gemacht, mit ihr zu plaudern. Und mit ihr zusammenzusein. Ihr Parfüm war verführerisch. Casey verwendete Parfüm nur selten – sie meinte, es lenke die Geschäftsmänner ab, mit denen sie zu tun hatte. Das Frühstück mit Orlanda hatte aus Kaffee und Toast, Eiern und Speck bestanden. Das Interview war gut gelaufen und die Zeit zu schnell vergangen. Er war noch nie in Gesellschaft einer Frau mit so
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