Hongkong 02 - Noble House Hongkong
nichts Besonderes … wozu dann die Aufregung? Von dem, was der alte AMG produziert hat, war doch das meiste an den Haaren herbeigezogen, und jetzt, wo er tot ist, muß ich zugeben, daß ich die Berichte, solange Sie sie in Händen haben, nicht besonders hoch einschätze. Bitte verbrennen Sie sie oder lassen Sie sie durch den Reißwolf gehen, Exzellenz!«
»Sehr gut.« Der Gouverneur richtete seine hellblauen Augen auf Roger Crosse. »Ja, Roger?«
»Nichts, Sir. Wollen wir gehen?«
Dunross sagte: »Wenn ich schon da bin, möchte ich noch einige Geschäftspapiere durchsehen. Die Herren brauchen nicht auf mich zu warten.«
»Bitte sehr. Vielen Dank, Ian«, sagte Sir Geoffrey und verließ mit den anderen den Raum.
Sobald er allein war, begab sich Dunross zu einer anderen Reihe von Schließfächern in einer anderen Abteilung des Tresors. Er nahm seinen Schlüsselring heraus und wählte zwei Schlüssel, wobei ihm durchaus bewußt war, daß Johnjohn der Schlag treffen würde, wenn er wüßte, daß Dunross einen zweiten Hauptschlüssel hatte.
Dieses Schließfach war eines von Dutzenden, die Noble House unter verschiedenen Namen besaß. In dem Fach befanden sich Bündel von Hundertdollarnoten, alte Dokumente und Urkunden. Oben lag eine geladene Pistole. In ihren ›Verhaltensmaßregeln für die Tai-Pane‹, kurz vor ihrem Tod 1917 geschrieben und Teil ihres Testaments, hatte die »Hexe« zusätzliche Regeln aufgestellt, darunter die, daß immer beträchtliche Mengen Bargeld zur Verfügung des Tai-Pan stehen sollten, und eine andere, wonach immer mindestens vier geladene Handfeuerwaffen an geheimen Orten verfügbar sein mußten. »Ich hasse Feuerwaffen«, hatte sie geschrieben, »aber ich weiß, daß sie notwendig sind. Am Abend vor dem Michaelstag 1916, als ich krank und schwach darniederlag, zwang mich mein Enkelsohn Kelly O’Gorman im Glauben, ich läge im Sterben, das Bett zu verlassen, um aus dem Safe im Großen Haus das Chop-Siegel des Noble House zu holen – und ihm damit die absolute Macht des Tai-Pan zu verleihen. Statt dessen nahm ich die Pistole, die sich im Safe befand, und erschoß ihn. Er kämpfte zwei Tage mit dem Tod, dann starb er. Ich bin eine gottesfürchtige Frau und hasse Feuerwaffen, aber Kelly war zu einem tollen Hund geworden, und es ist Pflicht eines jeden Tai-Pan, die Nachfolge zu sichern. Der du dies liest, zögere nicht, dich jeden Mittels zu bedienen, um Dirk Struans Vermächtnis zu schützen …«
Ein Schweißtropfen rollte ihm über die Wange. Er entsann sich seines Entsetzens, als er ihre »Verhaltensmaßregeln« zum erstenmal gelesen hatte. Er hatte immer geglaubt, Vetter Kelly – der älteste Sohn von der jüngsten Tochter Rose der »Hexe« – sei an der Cholera gestorben.
Sie hatte auch noch über andere Ungeheuerlichkeiten berichtet: »In diesem schrecklichsten aller Jahre, 1894, brachte man mir die zweite von Jin-quas Münzen. Das war das Jahr, als die Beulenpest in Hongkong wütete. Unter unseren heidnischen Chinesen starben Zehntausende, und unserer eigenen Bevölkerung erging es nicht weniger übel – auch Base Hannah und drei ihrer Kinder, zwei Kinder Tschen-tschens und fünf Enkelkinder fielen der Plage zum Opfer. Im Volksglauben wurde die Pest vom Wind getragen, man hielt sie aber auch für eine Strafe Gottes oder eine Seuche wie Malaria, dessen Brutstätte der tödliche ›übelriechende Dunst‹ von Happy Valley war. Und dann kam das Wunder! Die japanischen Forscher Kitasato und Yersin, die wir nach Hongkong brachten, entdeckten das Pestbakterium und wiesen nach, daß die Pest durch Flöhe und Nager übertragen wurde und daß planmäßige Gesundheitspflege und die Vernichtung der Nager dem Fluch für alle Zeiten ein Ende bereiten würden. Der ekelerregende Berghang Tai-ping Shan, der Gordon gehörte – Gordon Tschen, dem Sohn meines geliebten Tai-Pan – und wo der Großteil unserer Heiden schon immer gelebt hatte, war ein stinkender, schwärender, mit Menschen und Ratten überfüllter Hexenkessel und somit ein idealer Nährboden für alle Seuchen, und so sehr die Behörden den Bewohnern auch gut zuredeten und Verordnungen erließen, diese abergläubischen Menschen ließen sich nichts sagen und taten nichts, um ihr Los zu verbessern, obwohl das Sterben kein Ende nahm. Nicht einmal Gordon – jetzt schon ein zahnloser Greis – konnte etwas tun, außer sich angesichts der schwindenden Mieteinnahmen das Haar zu raufen.
Als im Spätsommer die Todesfälle
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