Hongkong 02 - Noble House Hongkong
unbeobachtet zu sein, lief sie zum Mülleimer hinüber und fischte die Wettscheine heraus. Das Herz klopfte ihr wie noch nie in ihrem Leben. Fieberhaft vergewisserte sie sich, daß ihre Augen sie nicht getäuscht hatten, aber es stimmte: Alle Scheine waren Gewinnscheine! Hastig stopfte sie sie in die Tasche. Dann warf sie noch mehr Abfall in den Eimer, hob ihn auf und stürzte den Inhalt in einen anderen, dieweil es ihr in den Ohren schrillte: Morgen kann ich die Scheine einlösen, ich habe drei Tage Zeit, sie einzulösen. Gepriesen seien alle Götter, ich bin reich, ich bin reich, ich bin reich! Es müssen hundert oder zweihundert Scheine sein, für jeden bekomme ich 265 HK … bei hundert sind das 26.500 HK, bei zweihundert 53.000 HK …
Eine Schwäche befiel sie. Sie kauerte sich neben der Leiche nieder und lehnte sich, ohne es zu merken, an die Wand. Sie wußte, daß sie es nicht wagen durfte, die Scheine jetzt zu zählen, dazu blieb keine Zeit. Es kam auf jede Sekunde an. Sie mußte sich vorbereiten. »Sei vorsichtig, du alte Närrin«, murmelte sie und geriet fast wieder in Panik. Hör auf, laut zu denken! Sei vorsichtig, du alte Närrin, sonst wird Jüngere Schwester etwas argwöhnen … Ob sie jetzt dem Aufseher sagt, was sie vermutet? Was soll ich nur tun? Es ist mein Joss, ich habe den Alten gefunden … Ayeeyah, was soll ich tun? Vielleicht werden sie mich durchsuchen. Wenn sie mich in diesem Zustand sehen, müssen sie stutzig werden …
Ihr Kopf schmerzte zum Zerspringen, und eine Welle von Übelkeit überkam sie. In der Nähe befanden sich die Toiletten. Sie rappelte sich auf und humpelte hinüber.
Hinter ihr machten andere Putzfrauen sauber. Morgen würden sie alle wiederkommen, denn es gab noch genügend Arbeit. Mit zitternden Fingern nahm sie in der leeren Toilette die Scheine heraus, umwickelte sie mit einem Lappen und versteckte sie hinter einem losen Ziegel in der Wand.
Erst in der frischen Luft fing sie wieder an, frei zu atmen. Als der Aufseher mit ihrer Freundin zurückkam, betrachtete er den Toten, durchsuchte sorgfältig seine Taschen und fand tatsächlich ein zusammengedrehtes Silberpapier, das ihnen entgangen war. Es enthielt eine Prise des Weißen Pulvers. »Das bringt 2 HK«, sagte er, obwohl er wußte, daß es sechs wert war. »Wir werden uns den Erlös teilen, einsvierzig für mich und sechzig Cents für euch beide.«
Um das Gesicht zu wahren, feilschte Einzahn Yang mit ihm, und sie einigten sich, daß er versuchen werde, drei HK zu bekommen, zwei für ihn und einen HK für die beiden Frauen. Zufrieden ging er fort.
Als sie wieder allein waren, fing die jüngere Frau an, den Abfall zu durchwühlen.
Einzahn Yang fragte hastig: »Was machst du da?«
»Ich wollte mir diese Scheine noch einmal ansehen, Ältere Schwester. Deine Augen sind nicht mehr so gut.«
»Wenn du meinst«, versetzte Einzahn Yang mit einem Achselzucken. »Hier bin ich fertig. Ich mache da drüben weiter.« Ihr knorriger Finger deutete auf einen Haufen Abfall unter einer der Sitzreihen. Nach kurzem Zögern folgte ihr die andere Frau, und Einzahn Yang hätte vor Glück beinahe laut herausgelacht. Sie wußte, daß ihr nichts mehr passieren konnte. Wenn ich morgen wiederkomme, klage ich über Bauchweh. Ich hole mein Vermögen aus der Wand und gehe heim. Also was fange ich mit meinem Reichtum an?
Zuerst die Anzahlung auf zwei quai-loh -Abendkleider für Dritte Enkelin; als Gegenleistung gibt sie mir die Hälfte ihres Verdienstes im ersten Jahr. Aus ihr wird eine gute Hure in der Good Luck Dance Hall werden. Weiter: Zweiter Sohn wird nicht mehr als Kuli auf der Baustelle Kotewall Road arbeiten. Er und Fünfter Neffe und Zweiter Enkelsohn werden Bauunternehmer, und noch bevor eine Woche herum ist, werden wir die Anzahlung auf ein Stück Land leisten und ein Haus bauen …
»Du schaust so glücklich aus, Ältere Schwester.«
»Ich bin ja auch glücklich, Jüngere Schwester. Meine Knochen tun mir weh, immer habe ich Fieber, mein Magen ist verkorkst, aber ich lebe, und der Alte ist tot. Die Götter sind meine Zeugen, als ich ihn sah, dachte ich erst, es wäre mein Mann, der vor fünfzehn Jahren auf der Flucht aus Schanghai umgekommen ist. Ich glaubte, einen Geist zu sehen! Ich traute meinen Augen nicht, denn dieser Alte könnte sein Zwillingsbruder gewesen sein.«
» Ayeeyah, wie schrecklich! Geister! Die Götter mögen uns vor Geistern bewahren!«
O ja, dachte die alte Frau, Geister sind schrecklich. Wo war
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