Hongkong 02 - Noble House Hongkong
gewesen: Sie hat Bartlett in meiner Wohnung zur Rede gestellt – so hätte ich’s gemacht. Und obwohl sie jetzt wußte, wo Casey gewesen war, jagte ihr der Anblick ihrer Rivalin Angst ein. Hat sie durch Par-Con Macht über ihn? fragte sie sich zitternd. Beherrscht sie ihn durch Aktien oder Kapitalanteile? Wenn Lincs erste Frau ihn beinahe ruiniert und Casey ihn so oft gerettet hat, wie er behauptet, muß sie sich mit Händen und Füßen gegen mich wehren. Ich würde es an ihrer Stelle auch nicht anders halten.
Unwillkürlich warf Orlanda einen Blick zurück. Immer noch hafteten Caseys Augen auf dem Rose Court. Nun traten Dunross und ein paar andere – unter ihnen Riko, Toxe, Philip und Dianne Tschen – aus dem Haus und kamen die Straße herunter. Sie verbannte sie und alles andere aus ihren Gedanken und beschäftigte sich ausschließlich mit der Frage, wie sie sich Linc gegenüber verhalten sollte, wenn sie jetzt in ihre Wohnung zurückkehrte. Sollte sie ihm erzählen, daß sie Casey begegnet war – oder besser nicht? Automatisch nahm sie die restlichen Päckchen aus dem Wagen. Eines weiß ich sicher, sagte sie sich immer wieder: Linc gehört mir. Casey hin, Casey her, mag es kosten, was es wolle, ich werde ihn heiraten!
Auch Casey hatte Dunross aus dem Haus kommen sehen; sie genoß den Anblick des groß gewachsenen, soignierten Mannes und war sehr froh, daß sie ihm hatte helfen können. Er sah um zehn Jahre jünger aus als bei ihrer ersten Begegnung. Dann, gerade als sie ihren Weg fortsetzen wollte, hörte sie ihn rufen. »Casey! Casey! Warten Sie doch einen Moment!« Sie warf einen Blick zurück. »Wollen Sie nicht mit uns essen gehen?« rief er ihr zu.
Sie war nicht in der Stimmung. Sie schüttelte den Kopf und rief zurück: »Danke, aber ich bin verabredet! Wir sehen uns mor…«
In diesem Augenblick bebte die Erde.
12
20.56 Uhr:
Der Erdrutsch hatte weiter oben auf der anderen Seite der Po Shan Road begonnen, war über die Straße gefegt und gegen eine zweigeschossige Garage gewuchtet. So groß waren die Masse und die Geschwindigkeit der Mure, daß sich der Garagenbau drehte, sich ein kurzes Stück über die Gartenterrasse schob und dann umkippte. Die Rutschung gewann an Stoßkraft, schoß an einem im Dunkel liegenden Hochbau vorbei, überquerte die Conduit Road, prallte gegen Richard Kwangs zweigeschossiges Haus und zerstörte es. Zusammen mit diesen Baulichkeiten setzte die Mure, die nun schon dreihundert Meter lang und sechzig Meter breit war – fünfzigtausend Tonnen Erde und Gestein – ihren Weg über die Kotewall Road fort und prallte mit aller Wucht gegen den Rose Court.
Sieben Sekunden waren vergangen.
Das Gebäude schien zu erbeben. Es löste sich von seinen Fundamenten, bewegte sich auf den Hafen zu und brach in der Mitte ab – wie ein Mensch, der, bevor er stürzt, in die Knie geht. Die oberen Geschosse stießen gegen eine Ecke der oberen Stockwerke der Sinclair Towers und rissen sie in die Tiefe, wo sie unter gewaltigem Krachen zu Schutt zerbarsten. Ein Teil der Mure und die zerstörten Gebäude wälzten sich den Berg hinunter, bis ihnen eine Baustelle Halt gebot. Die Lichter erloschen, als das Haus in einer Staubwolke einstürzte. Nun herrschte lähmende, betäubende Stille über den Mid Levels.
Dann begannen die Schreie.
Halb unter Schutt begraben, steckte Suslew im Tunnel unter der Sinclair Road. Ein Teil des Daches hatte dem Druck nachgegeben, und nun füllte sich der Gang rasch mit Wasser, das aus geborstenen Rohren und Leitungen herabströmte. Ohne zu wissen, was geschehen war, verwirrt und hilflos, kämpfte er sich ins Freie. Von panischem Schrecken ergriffen, sah er sich um. Die Stromleitungen waren ausgefallen, die Häuser in Finsternis getaucht. Ein riesenhafter Haufen unter dumpfem Rollen sich verschiebender Trümmer schloß ihn ein. Hals über Kopf flüchtete er die Sinclair Road hinunter.
Die Menschen auf der Kotewall Road jenseits der Mure, unter ihnen auch Casey, waren in Sicherheit, aber vor Entsetzen wie gelähmt. Sie konnten einfach nicht glauben, was sie miterlebt hatten. So weit das Auge reichte, hatte die riesige Mure die ganze Straße weggerissen. Der Großteil der Berglehne, eben noch terrassenförmig gegliedert, war jetzt ein wüster, zerklüfteter Hang von Erde, Schlamm und Fels.
Dunross und seine Freunde waren über den Steilabfall hinuntergeschleudert worden.
Casey wollte schreien, aber ihre Stimme versagte. »O mein Gott! Linc«, stieß sie
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