Honigmilch
Haller, »und das macht auch Rudis Darm. Er setzt sich gegen das viele Schweinefett zur Wehr, das ihm zugemutet wird, und –«
»Aber eine Kinderlähmung«, unterbrach ihn Fanni, »holt man sich doch nicht von kalten Füßen oder schwerem Essen.«
Doc Haller seufzte. »Der Gipfel aller Unvernunft ist es, sich nicht impfen zu lassen. Wie oft habe ich Annabel gepredigt, das nachzuholen, was in ihrer Kindheit versäumt wurde. Stellen Sie sich vor, es ist noch nicht lange her, da hatte sie Mumps.«
»Krautdoktor«, grölte Rudi, »weißt du, wie man eine Blondine dazu kriegt …«
Ein Blondinenwitz folgte dem anderen.
Fanni sah sich indessen die Stammtischbrüder der Reihe nach an:
Da hockte Max, der spendable Wirt, gesellig und trinkfest. Im Fall Annabel und auch im Fall Irina als Täter auszuschließen, weil arthritisch und deshalb gehbehindert – ohne Krücken wohl komplett lahm.
Bergwacht-Sepp und Bergwacht-Rudi, Letzterer dümmer als seine Blondinenwitze. Beide trugen das Edelweiß auf der Brust wie Steifftiere den Knopf im Ohr. Jeder von ihnen hätte Annabel erschlagen und Irina jagen können. Aber wo steckte ein mögliches Motiv?
Die Zollfahnder: deutsche Beamte als Totschläger?
Wäre ja nichts Neues!
Heide setzte sich neben Max und legte ihm die Hand auf die Schulter.
Ja, auch Heide zählte dazu. Heide, die personifizierte Tüchtigkeit. Heide, das Fleisch gewordene Zu-Diensten-Sein. Hatte Heide – unter einer Maske aus Wohlwollen und Liebenswürdigkeit – Annabel gehasst? Vielleicht weil Schneewittchen sie in den Schatten stellte?
Fanni schreckte auf, als sie Sepp Annabels Namen sagen hörte.
»Für alles hat sie sich interessiert«, sagte Sepp. »Von mir hat sie neulich ganz genau wissen wollen, wie lang ich mich schon mit meinen eitrigen Mandeln herumplag. Ob ich als Kind schon für Angina anfällig gewesen wär, wollte sie wissen.«
»Mich hat sie auch ausgefragt über meine Blasenentzündung«, warf Heide ein.
»Und dem Doc hat sie überhaupt keine Ruhe mehr lassen«, rief Rudi. »Ganze Arme voll Unkraut hat sie auf dem Tisch da ausgebreitet, und vom Doc wollte sie dann ganz genau hören, wie jeder Grashalm heißt und gegen was er hilft.«
»Wollte Annabel in Ihre Fußstapfen treten, Doc?«, fragte Fanni.
Haller stützte die Ellbogen auf den Tisch, legte den Kopf in die Hände und begann zu schluchzen.
»Er kann es halt nicht verwinden«, sagte Heide.
Um den Stammtisch wurde es still.
»Die letzte Runde für heute«, verkündete Max und scheuchte Heide damit wieder auf die Beine.
Die Zollfahnder brachen als Erste auf. Sepp und Rudi folgten ihnen.
»Wir zwei haben es ja nicht weit«, grinste Rudi. »Wir biegen ums Hauseck, und schon sind wir daheim.«
Es dauerte eine Weile, bis Fanni draufkam, was Rudi meinte. Die Bergwächter übernachteten im Anbau, in ihrer Dienststelle quasi, weil morgen Samstag war und sie nicht zur Arbeit mussten.
»Magst nicht dableiben?«, wandte sich Max an Doc Haller. »Es ist wirklich schon spät für einen Abstieg so ganz allein. Und Platz ist ja noch in der Männerkammer: Zweimal Zoll, einmal Kriminal macht drei, fünf Betten stehn drin.«
Doc Haller hatte inzwischen aus seinem Rucksack eine Stirnlampe an einem elastischen Band zutage gefördert. Nun befestigte er das Lämpchen an seinem Kopf.
»Meine Frau verlässt sich darauf, dass ich nach Hause komme«, sagte er. »Sie wartet auf mich.«
Das genaue Gegenteil von Hans Rot, dachte Fanni grimmig. Nach seinem Tagwerk spätabends noch zwei Stunden lang schier ohne Weg und Steg vom Falkenstein abzusteigen, damit sich seine Frau nicht einsam fühlt, würde dem nicht in den Sinn kommen. Wie gut, dass Hans Rots Frau nicht derart auf ihren Mann angewiesen ist.
Als der Doc die Wirtsstube verlassen hatte, warf Fanni einen Blick in die Runde und bemerkte erst jetzt, dass bereits sämtliche Gäste fort waren. Auf einigen Tischen standen Stühle, auf anderen hatte Heide Trockengestecke, Salz- und Pfefferstreuer, Maggieflaschen und Kerzenhalter aufgereiht.
Plötzlich öffnete sich die Tür noch mal, und Doc Haller steckte seinen Kopf mit der bereits brennenden Stirnlampe herein.
»Ach übrigens, Frau Rot«, sagte er, »sollten Sie nicht einschlafen können, so verlassen in der Weiberkammer, dann empfehle ich Ihnen meinen Schlaftrunk: heiße Milch mit Honig und einem ordentlichen Schuss Cognac. Max wird ihn sicher gern für Sie mixen.«
Dann war der Doc verschwunden.
Weil Fanni fand, sie habe für
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