Honigmilch
flüsterte er, »das verbotene Land.«
Fast ehrfürchtig bewegten sie sich auf den Granitpfeiler zu, der den Gipfel des Lackenberg markierte. Neben dem Stein verkündete eine Tafel, dass der Lakenberg zum »Sumava«, dem tschechischen Nationalpark, gehöre.
Fanni lehnte sich an den Stein, atmete tief durch und schloss die Augen.
Nach einer Weile murmelte sie: »Warum versucht man immer, uns das zu verwehren, was am schönsten ist?«
»Weil Sehnsüchte wertvoller sein können als ihre Erfüllung«, antwortete Sprudel.
»Stimmt«, meinte Fanni prosaisch. Ihre Antwort belegte Sprudel, dass sich der Weingeist endgültig verzogen hatte.
Er packte die Butterbrote aus.
Fanni und Sprudel blieben eine geschlagene Stunde im Sonnenschein auf ihren Rucksäcken sitzen. Sie dösten vor sich hin, sagten mal dies und mal das.
Am frühen Nachmittag, Fannis Armbanduhr zeigte halb zwei, traten sie den Rückweg zur Hütte an.
»Was meinst du«, fragte Sprudel, als sie die Wildnis hinter sich gelassen hatten und gemütlich auf dem Forstweg dahinwanderten, »denkst du, wir könnten noch was Wichtiges erfahren, wenn wir einen weiteren Abend am Stammtisch verbringen?«
Fanni dachte an die Schnapsrunden und an die Blondinenwitze und schüttelte den Kopf. Die Weiberkammer fiel ihr ein, die Gemeinschaftstoilette und das fleckige Becken im Waschraum. Sie schüttelte den Kopf heftiger.
»Wir könnten ein Zimmer im Hotel Zur Waldbahn für dich mieten«, schlug Sprudel vor.
»Du wirst doch nicht heute schon zurückfahren wollen?«, fügte er nach einem Augenblick erschreckt an, weil Fanni schwieg.
Dem Umfang der Tasche nach zu urteilen, die in Fanni Rots Wagen liegt, bleibt sie vier Wochen!
»Ich …«, begann Fanni. Aber dann unterbrach sie sich.
Ziemlich genau in der Mitte des Rukowitzschachtens, abseits der Wege und Pfade, hatte sie Doc Haller entdeckt. Er hockte auf der Erde. Als Fanni und Sprudel näher herankamen, konnten sie erkennen, dass Haller einen Grashalm fotografierte.
Sie blieben neben dem Doc stehen und sahen zu. Schließlich erhob er sich und reichte zuerst Fanni, dann Sprudel die Hand. Mit einem Lächeln deutete er auf einen unscheinbaren Stängel zwischen den Grasbüscheln und sagte:
»Ysop.«
»Ach, und das wächst hier?«, erkundigte sich Fanni.
Der Doc nahm die Brille ab und blinzelte sie an. »Denken Sie, ich laufe herum und binde den Leuten Bären auf? Es handelt sich fraglos um echten Ysop, er hilft bei Rheuma, Migräne, Herzrasen.«
»Ysop ist wohl ein Heilkraut«, schmunzelte Sprudel, »und ich dachte schon, Sie wären auf Spurensuche.«
Doc Haller sah ihn forschend an. »Sie meinen, auf der Suche nach Wolpertingerspuren?«
Sprudel winkte ab. »Ich wollte keinesfalls Rudis Klamauk aufwärmen. Eigentlich dachte ich an Spuren, die bei der Aufklärung der beiden Todesfälle dienlich sein könnten.«
Der Doc runzelte die Stirn. »Das hier ist wohl kaum der richtige Ort, um danach zu suchen.« Er machte eine kleine Pause und fügte dann an: »Selbst wenn es welche gäbe.«
»Ja«, sagte Sprudel, »wenn es welche gäbe, hätten die Ermittler sie längst entdeckt.«
Doc Haller nickte, verstaute seine Kamera in einem Futteral, an dem ein Karabiner hing, und befestigte sie damit an seinem Gürtel. »Sie waren es doch, die Annabel gefunden hat«, wandte er sich an Fanni. »Sie waren als Erste am Tatort, aber auch Ihnen ist wohl nichts aufgefallen, das auf den Täter hinweisen könnte?«
»Ich war viel zu erschrocken«, antwortete Fanni.
»Verständlich«, sagte der Doc.
»Wie haben Sie denn von Annabels Tod erfahren?«, fragte ihn Sprudel.
»Max hat es mir erzählt. Ich bin am Sonntag in dem Moment in die Falkenstein-Schutzhütte gekommen, als sich drinnen alle aufmachten, um zum Unglücksort zu pilgern. Max sagte, einer der Nationalparkranger habe ihn angerufen und gesagt, dass Annabel …«
Der Doc brach ab und wischte sich die Augen.
»Sie kamen wohl gerade vom Kräutersammeln und wollten sich stärken«, sagte Sprudel.
Doc Haller schüttelte den Kopf. »Nein – ja – nein.« Dann holte er tief Luft. »Eigentlich wollte ich am Vormittag auf dem Sulzschachten Winterlieb für mein Herbarium pflücken.« Plötzlich lachte er. »Meine Frau hat mir neulich empfohlen, das Stadtarchiv zu pachten, wo all die getrockneten Kräuter, sämtliche Fotos und die Berge von Aufzeichnungen wunderbar aufbewahrt werden könnten.«
»Aber Sie taten es nicht«, stellte Fanni fest.
»Das Stadtarchiv ist nicht
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