Honigmilch
zu verpachten«, antwortete der Doc streng.
»Sie pflückten kein Winterlieb«, sagte Fanni.
»Nein, ich musste meine Frau um zehn Uhr zu ihrer Schwester nach Teisnach bringen. Die beiden wollten – was wollten sie noch?«
»Die Fahrt hat Sie den ganzen Vormittag gekostet«, soufflierte Sprudel.
»Ja. Ich hätte auch noch zum Mittagessen bleiben sollen. Aber dann wäre ich überhaupt nicht mehr in meinen Wald gekommen. Zwölf hat es geschlagen, als ich durch Bodenmais in Richtung Zwiesler Waldhaus zurückgefahren bin.«
»Von dort sind Sie über die Steinbachfälle aufgestiegen und gleich zur Hütte gegangen?«, fragte Fanni.
Doc Haller nickte. »Und da habe ich von dem Unglück erfahren.« Er zog sein Taschentuch heraus, wischte sich noch einmal die Augen, putzte die Brille und setzte sie wieder auf.
»In der Hütte muss enormer Aufruhr geherrscht haben«, sagte Sprudel.
»Ja«, antwortete der Doc. »Den ganzen Nachmittag noch. Der Stammtisch war voll besetzt. Heide hat eine Runde Schnaps nach der anderen auftragen müssen. Max, die Bergwächter, die Zöllner und die Nationalparkranger haben sich auf ihre Weise von Annabel verabschiedet. Ich konnte da nicht mittun, bin bald wieder über die Steinbachfälle abgestiegen und nach Hause gefahren.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Apropos, ich habe meiner Frau versprochen, heute frühzeitig zurückzukommen. Sie hat sich den Fuß verknackst, deshalb bin ich schon seit Tagen allein unterwegs, und das wird auch noch einige Zeit so bleiben. Das Bein muss geschont werden – ein, zwei Wochen mindestens.«
»Wir leisten Ihrer Frau gern ein wenig Gesellschaft, während Sie auf Kräutersuche sind«, bot Sprudel an.
Der Doc hob beide Hände, als wolle er einen Angriff abwehren. »Das ist nicht nötig. Die Schwester meiner Frau kommt heute Nachmittag, und sie wird eine Weile bleiben.«
Daraufhin verabschiedete sich der Doc freundlich und ging talwärts davon.
»Ist dir wieder unwohl? Du warst eben so schweigsam«, wandte sich Sprudel an Fanni, während sie langsam bergan in Richtung Falkenstein stiefelten.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nur darüber nachgedacht, dass es eine Menge Erfahrung braucht, um mit Naturkräutern Heilerfolge zu erzielen. Leni hat mir neulich Ysoptee mitgebracht. Sie sagte, er hilft bei Husten, Heiserkeit und geschwollenen Mandeln.«
Heide servierte ihnen Griesnockerlsuppe am Stammtisch, der für nachmittags bereits recht gut besetzt war. Max der Wirt orderte eine Runde Schnaps.
Fanni lehnte ab und erhob sich. Sie müsse ihre Sachen für den Abstieg zusammenpacken, sagte sie entschuldigend und strebte der Weiberkammer zu.
Durch die offen stehende Tür sah sie wenig später auch Sprudel aus der Wirtsstube kommen. Er eilte in die Männerkammer und trat kurz darauf mit seinem prall gefüllten Rucksack wieder heraus. Er habe sich schon von den Stammtischbrüdern verabschiedet, sagte er.
Fanni nickte, öffnete noch mal die Tür zur Gaststube und winkte ein kurzes Lebewohl. Dann strebten sie den Flur hinunter und traten hinaus unter das Vordach der Hütte.
An der Bretterwand lehnte Heide und sog gierig an einer Zigarette.
»Hart verdiente Ruhepause«, sagte Sprudel liebenswürdig.
Heide stieß eine dichte Rauchwolke aus und verkündete: »Schier nicht zu machen, ein ganzes Wochenende ohne Hilfe. Max muss schleunigst zusehen, dass er Ersatz herbringt für die Annabel.«
Fanni und Sprudel bemühten sich, verständnisvolle Mienen zu zeigen.
»Annabel war wohl ziemlich tüchtig?«, fragte Fanni.
»Das Mädel war mehr als aufgeweckt«, antwortete Heide. »Als sie mit dem Bedienen hier anfing, hat sie keinen halben Tag gebraucht, um Rudi und Konsorten zu zeigen wo es langgeht.« Sie paffte.
Fanni und Sprudel warteten, dass sie fortfuhr. Heide tat ihnen den Gefallen.
»Auf einer Hütte wird gern und viel getrunken«, sagte sie, »und bald merkt so mancher nicht mehr, wohin sich seine Hände verirren.« Sie lachte. »Wenn da eine nicht rigoros ist …«
»Merkwürdig«, sagte Fanni, »bei Ihnen wagt sich keiner zu weit vor, obwohl Sie ständig mit den Männern scherzen und schäkern. Wie haben Sie sich so viel Respekt verschafft?«
Heide rauchte und dachte nach. »Gewonnen hast du«, meinte sie nach einer Weile, »sobald es dir gelungen ist, vor versammelter Mannschaft dem Platzhirsch den Schneid abzukaufen. Vor fünfzehn Jahren, als ich in der Schutzhütte zu arbeiten angefangen habe, hatte der Kerl von der Wetterwarte dort
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