Honigmilch
war«, warf Sprudel ein, »und wenn ihr der Zufall ein wenig zu Hilfe kam, könnte Heide die kleine Annabel durchaus auf dem Gewissen haben.«
Dem lässt sich wohl nichts entgegensetzen!
»Max«, sagte Fanni.
Sprudel nickte. »Ja, du hast recht. »Max hätte es auffallen müssen, wenn plötzlich keine der beiden Bedienungen mehr in der Gaststube gewesen wäre. Falls er selbst dort war. Es könnte ja sein, dass Max während der fraglichen halben Stunde auf seinem Hocker in Küche saß und schon Vorbereitungen fürs Abendessen traf. Vielleicht hat er Zwiebeln gehackt oder Schnitzelfleisch geklopft …«
Sie machten sich wieder auf den Weg.
Gegen fünf Uhr nachmittags erreichten sie Sprudels Leihwagen, stiegen schweigend ein und fuhren nach Zwiesel.
Im Hotel Zur Waldbahn mietete Sprudel für Fanni das Zimmer neben dem seinen. Sie verabredeten sich für sieben Uhr zum Abendessen. Vorher wollten beide noch duschen und sich ein bisschen ausruhen.
Geduscht und frisch angezogen, war Fanni auf einmal nicht mehr nach Ausruhen zumute.
Sie starrte aus dem Fenster. Ihr Blick wanderte zum Bahnhof hinüber und weiter zu den Häusern auf einem Hügel dahinter. Der Finkenschlag!
Fanni nahm ihre Wagenschlüssel vom Nachttisch.
Fünf Minuten später stellte sie ihr Auto am Wegrand im Amselhain ab und ging das Sträßchen zu Fuß weiter. Nach wenigen Metern traf sie auf den Finkenschlag und bog ein. Seit sie in den Sechzigern zuletzt hier gewesen war, hatte sich einiges verändert. Die Straße war verbreitert worden und links und rechts von Einfamilienhäusern gesäumt. Als Fannis Schulkameradin noch hier gewohnt hatte, standen nur drei Häuser am Finkenschlag, ein Gehöft mit Stallungen, eine winzige halb verfallene Kate und die kleine Sägemühle, die der Vater von Fannis Schulfreundin betrieb.
Inzwischen sieht der Finkenschlag aus wie der Erlenweiler Ring, dachte Fanni.
Identisch! Am Ende macht er genau so eine Kurve und mündet wieder in sich selbst.
Fanni hielt darauf zu.
Wie an Samstagabenden auf dem Erlenweiler Ring war auch hier niemand auf der Straße. Fanni wagte jedoch nicht, stehen zu bleiben, die Häuser anzustarren und die Namen an den Haustüren zu lesen. Sie wusste, dass – wie auf dem Erlenweiler Ring – schier hinter jedem Fenster Augen lauerten.
Als Fanni in die Kurve bog, hatte sie noch immer keine Ahnung, wo Annabel Scheichenzuber gewohnt hatte.
Im Scheitelpunkt der Krümmung tat sich plötzlich eine Lücke zwischen den Gärten auf und gab die Sicht auf einen Feldweg frei, der zu einer winzigen Kapelle führte.
Es waren nur ein paar Meter bis dorthin.
Die Mauern des Kirchleins bestanden durchwegs aus verfugten Feldsteinen, nur die Fanni zugewandte Wand ließ einen gewölbten Durchgang frei. Erst beim Eintreten bemerkte Fanni die schwere Tür aus Holzbohlen, die mittels Haken und Öse an der Wand gesichert war, damit sie nicht zuschlagen konnte.
Im Innern der Kapelle war es kühl und dämmrig. Nachdem sich ihre Augen an das diffuse Licht gewöhnt hatten, konnte Fanni an der Stirnseite eine Marienstatue erkennen. Davor standen ein sehr schmaler Betstuhl und eine Vase mit Herbstastern auf dem gepflasterten Boden.
Auf einmal vernahm Fanni ein Plätschern.
Sie wandte sich nach links und sah ein Granitbecken. Aus einem Stahlrohr, das von außen durch die Wand zu kommen schien, rann Wasser hinein. Fanni machte einen Schritt darauf zu, streckte die Hand aus und hielt sie unter das dünne Rinnsal.
Fanni schnupperte an ihrer nassen Hand, roch nichts, wischte sie an ihrer Hose trocken.
Und dann schlug die Tür mit einem dröhnenden Rums zu.
Es war nun fast finster in der Kapelle. Nur durch eine Reihe von Glasbausteinen im Dachfirst fiel ein wenig Licht herein. Fanni wandte sich um und begann, die Tür nach einer Klinke abzutasten. Doch dort, wo Türklinken normalerweise angebracht waren, fühlte sie nur mehr oder minder glattes Holz.
Fanni atmete durch und fing noch mal von vorne an. Methodisch diesmal, von unten rechts nach oben links.
Sie fand keine Klinke, keinen Riegel, keinen Griff.
Eingesperrt!
Fanni stemmte sich mit beiden Händen gegen die Tür und versuchte, sie nach außen zu drücken. Das schwere Portal bewegte sich kein bisschen.
So, Fanni Rot, wenn du dein Handy nicht zu Hause in einer Kommodenschublade verwahren würdest, dann könntest du jetzt jemanden zu Hilfe rufen!
Wen denn?
Sprudel eventuell?
Fanni seufzte und machte einen Rundgang durch die Kapelle. Der erforderte
Weitere Kostenlose Bücher