Honigmilch
wollte einen eigenen Laden«, unterbrach ihn Fanni. »Und was wollte Irina?«
»Einen Märchenprinzen, der ihr sein Schloss zu Füßen legt«, antwortete Sprudel in annähernd normalem Tonfall, weil der Weg jetzt etwas flacher verlief. »Sie hielt allerorts Ausschau nach ihm, in der Schutzhütte, in der Waldhausalm, auf dem Weg von dort nach da. Irina erträumte sich ein Leben in Reichtum und Sorglosigkeit.«
Fanni blieb stehen. »Sprudel, wie kommst du …?«
»Heide hat das erwähnt. Gestern. Ja, gestern, da war ich doch zusammen mit dem Doc Kräutersammeln und dann für ein Stündchen in der Schutzhütte, wo wir die Bergwächter angetroffen haben. Der Doc war übrigens sehr freundlich. Als ich ihn am Montagmorgen angerufen habe, hat er sich sofort bereit erklärt, mir beim Anlegen eines Herbariums zu helfen.«
»Was Irina wohl getan hätte«, überlegte Fanni laut, »wenn ihr ein Leben an der Seite eines wohlhabenden Mannes in Aussicht gestellt worden wäre?«
»Zugegriffen«, antwortete Sprudel prompt. »Heide sagt, Irina war zwar nicht dumm, sie war auch recht resolut, aber in manchen Dingen schien sie realitätsfern – ganz im Gegensatz zu Annabel. Die stand mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen und fasste mit beiden Händen nach dem, was sie erreichen konnte. Irina träumte indessen davon, dass ihr das Glück eines Tages in den Schoß fallen würde.«
»Jonas hat Leni gegenüber ebenfalls angedeutet, dass Irina auf eine gute Partie scharf war«, sagte Fanni. »Ich verstehe nur nicht, wieso Irinas Kolleginnen von der Waldhausalm sagen, sie lebte wie eine Nonne.«
Sprudel schmunzelte. »Ich finde, das lässt sich vereinbaren. Die Schlechten ins Kröpfchen, nur der Beste ins Bettchen. Was, sagte Heide, hat sie Rudi übergezogen, den Bratenwender?«
»Irina hat Rudi mit dem Handfeger in Schach gehalten«, berichtigte ihn Fanni.
Und wie fängt man sich auf diese Weise eine Syphilis ein?
»Irina«, erzählte Sprudel, »soll eine ganze Menge Verehrer gehabt haben. Heide sprach von einem Witwer aus Bergreichenstein, der dort eine Druckerei betreibt, und von einem gestandenen Mannsbild von Bäckerssohn. Den Bäckerssohn kennt Heide recht gut. Er ist ein paarmal in der Schutzhütte eingekehrt. Einmal hat er sogar dort übernachtet. Heide schwärmte geradezu von ihm: ›Eine Seele von Mensch‹, sagte sie, ›da möchte man die Zeit zurückdrehen und zwanzig Jahre jünger sein. An Irinas Stelle hätte ich Matyáš vom Fleck weg geheiratet.‹ Aber Irina wollte nicht für den Rest ihres Lebens im Morgengrauen aufstehen und Böhmische Dalken mit Marmelade füllen oder Mehlteig für Böhmische Knödel ansetzen. Heide und Annabel haben ihr angeblich oft zugeredet. ›Nimm den Spatz in der Hand, nimm den Bäckerssohn, erbt er nicht ein schmuckes Häuschen?‹ Aber Irina hätschelte lieber ihre Träume.«
»Sie folgte einer Illusion und landete kopfüber im Höllbach«, flüsterte Fanni.
»Schau«, sagte Sprudel staunend.
Fanni hob den Blick von dem Felsbrocken, der in ihrem Weg lag, und sah den Rachelsee vor sich liegen, schwarz und still.
Warum spiegeln eigentlich alle Bayerwaldseen Schwärze, fragte sie sich und dachte an die beiden Arberseen, die wie dunkle Augen in ihren Waldflecken lagen.
»Der stille, rätselhafte Waldsee«, las Sprudel von einer Tafel am Wegrand ab, »verdankt seine Entstehung der Eiszeit. Fünfmal war der Rachelgipfel von Gletschereis bedeckt, das langsam talwärts wanderte. Wo die Eismassen abschmolzen, bildete sich aus dem abgesetzten Gestein und aus Erdreich ein Moränenwall. Dahinter staute sich das Gletscherwasser.«
Fanni starrte in den dunklen Spiegel. »Der See sieht aus, als wäre er tot, ein Unterweltgewässer …«
»Du hast recht«, sagte Sprudel. »Nichts lebt in den Bayerwaldseen, denn sie ruhen kalt, nährstoffarm und übersäuert in ihren Mulden.«
»Kein Wunder«, meinte Fanni, »dass die Bayerwaldbauern, die nichts anderes kannten als schwarze Gewässer, dunkle Wälder und lange, kalte Winter, an Gespenster glaubten. Dass sie in jeder Höhle den Teufel, in jedem Erdloch den Sensenmann und in jeder Felsritze die armen Seelen hocken sahen.«
Sie wandte sich vom See ab und begann langsam den beachtlich steilen Pfad weiter hinaufzusteigen. Zum Reden reichte der Atem nun nicht mehr, und deshalb hingen beide ihren Gedanken nach.
»Schau«, sagte Sprudel irgendwann.
Linkerhand war auf einem winzigen Plateau ein Stückchen unterhalb des Wanderweges die
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