Honigmilch
verfallenen Gebäudekomplex mitten in der Stadt.
»Sprudel«, lobte Fanni, »du weißt ja schier alles! Wie viele Geschichtsabrisse westböhmischer Städte hast du dir denn gemerkt?«
»Nur die beiden«, gab Sprudel zu, »Kasˇperské Hory und Susˇice. Und jetzt gäbe ich eine ganze Reihe von Geschichtsdaten darum, zu erfahren, wo wir hier ein Café finden können.«
Letztendlich entdeckten sie an der Uferstraße der Otava ein auffällig modernes Straßencafé. Böhmische Mehlspeisen gab es dort allerdings nicht. Die Kuchenvitrine bot Sachertorte, Streuselkuchen und – »Windbeutel«, rief Sprudel. »Seit meiner Kindheit habe ich keinen mehr gegessen.«
Er vertilgte zwei Stück. Fanni bestellte sich eine Quarkschnecke und aß sie mit gerunzelter Stirn.
»Ich weiß«, sagte Sprudel, nachdem er das letzte Stück Brandteig samt Sahnehut mit einem Schluck Milchkaffee hinuntergespült hatte. »Die Verwandlung von der Nutte zur Nonne lässt sich nur schwer verdauen. Irina muss einen schwerwiegenden Grund dafür gehabt haben.«
»Sie wollte jenseits der Grenze als brav und tugendhaft gelten«, schlug Fanni vor. »Nachdem sie ihr Vorhaben, mit Lasterhaftigkeit ans Ziel zu kommen, zum Scheitern verurteilt sah, wollte sie es eben anderwärts andersherum versuchen.«
Einfach so? In einem abgelegenen Kaff?
Auch Sprudel schien Fannis Erklärung nicht zufriedenzustellen.
»Lass uns sortieren«, sagte er, zupfte ein doppelt gefaltetes Blatt Papier aus seiner Brusttasche, klappte es auf und strich es glatt.
»Hypothese Nummer eins«, las Fanni, »unser Täter hat sowohl Annabel Scheichenzuber als auch Irina Svetla auf dem Gewissen. Zweitens, es gibt einen verborgenen Bezug zwischen den Mädchen.
Drittens, eine Person, die beide Mädchen kannten, hat ihnen unabhängig voneinander Versprechungen gemacht – und möglicherweise dafür Gegenleistungen verlangt. Wer?
Drei a, die Stammtischleute von der Falkensteiner Schutzhütte: Heide, Max der Wirt, die Nationalparkranger …
Drei b, jemand, von dessen Existenz wir keine Ahnung haben.«
Sprudel sah Fanni an und verbesserte: »An dessen Existenz oder dessen Verbindung zu den Mädchen wir in diesem Zusammenhang nicht gedacht haben.«
»Jonas Böckl«, murmelte Fanni.
»Alles würde zusammenpassen«, stimmte Sprudel zu. »Zuerst verspricht Jonas den Mädchen das Blaue vom Himmel herunter. Irina gelobt er die Heirat – Reisen, ein eigenes Auto und Designerklamotten inbegriffen. Annabel sagt er Hilfe bei der Eröffnung eines Geschäfts für Glaskunst zu – bietet ihr Geld an und behauptet, er habe Beziehungen, die sich für ihre Zwecke nutzen ließen, schließlich kann er ja mit einer Menge Jagdbekanntschaften aufwarten. Aber als ihn die Mädchen drängen, seine Versprechungen in Taten umzusetzen, reagiert er wütend: Jonas Böckl, der Jäger, hetzt Irina durch den Wald, bis sie voll Panik auf einem glitschigen Baumstamm den Höllbach zu queren versucht und dabei abstürzt. Jonas Böckl, der Jäger, stellt Annabel unter einen Felsen am Falkensteingipfel und schleudert sie gegen den Stein, weil sie auf ihren Forderungen beharrt. Annabel schlägt an einer Kante auf und bricht sich das Genick.«
»Liebe Güte«, stöhnte Fanni und fragte sich, was Jonas Böckl, das Monster, mit Leni Rot zu schaffen hatte. Sie stützte den Kopf in beide Hände und starrte die Tischplatte an.
»Wir müssen Jonas ernsthaft in Betracht ziehen«, sagte Sprudel. »jedenfalls so lange, bis wir wissen, wo er sich aufhielt, als … zumindest als Annabel starb.«
»Die neue Hypothese«, wandte Fanni ein, »berücksichtigt aber weder Polio noch Syphilis noch Typhus.«
Sprudel traktierte seine Wangenfalten. »Für diese Infektionen haben wir sowieso keine Erklärung. Sie müssen auf Zufall beruhen. Irina hat sich im Bordell angesteckt, Annabel war nicht gegen Polio geimpft, was sie dafür anfällig machte, und vielleicht hat wirklich ein Dauerausscheider von Typhuserregern eine Pfütze im Höllbach oder im Schleicherbach verunreinigt, aus der unser Ranger dann getrunken hat.«
Heide hat eine chronische Blasenentzündung, weil sie mit Vorliebe auf Eisblöcken sitzt, und Rudi – oder ist es Sepp? – leidet ständig unter Durchfall, weil er zum Frühstück Rizinusöl säuft!
Fanni rieb sich heftig über die Stirn, um die krude Gedankenstimme zum Schweigen zu bringen.
»Gut«, sagte sie, nahm den Stift, den Sprudel auf den Tisch gelegt hatte, und schrieb: »Viertens, Jonas könnte Irina und
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