Honigtot (German Edition)
es waren auch einige Männer in gut sitzenden Anzügen und eine Anzahl nach neuester Mode gekleideter Damen da. Marlene, die hier anscheinend als Stammgast verkehrte, wusste über jede der Frauen eine Geschichte zu erzählen. So sei die eingefärbte Blondine am Nebentisch, die sich ebenfalls gerade eine Zigarettenspitze anzünden ließ, der bekannteste Wanderpokal Krakaus, der schon durch so viele Betten gegangen wäre, dass sich die Dame bald eine neue Stadt würde suchen müssen, weil ihr hier die Offiziere ausgingen und das kleine dürre Männchen in dem schwarzen Anzug in der Ecke sei ein hohes Tier in der Textilindustrie, der hauptsächlich mit Haaren für Matratzenfüllungen handelte, und der feiste schwitzende Mann mit Halbglatze, der ihm gegenübersäße, würde von jedem nur der `Organisator` genannt, weil es nichts gäbe, was er nicht beschaffen konnte.
„ Natürlich nur, wenn man über entsprechend Bares verfügt“, ergänzte Marlene in verschwörerischem Ton. Und so weiter und so fort.
Die Oberflächlichkeiten Marlenes plätscherten weiter vor sich hin und verwoben sich für Deborah bald mit Langeweile. Sie nippte lustlos an ihrem Champagner, zupfte ihre Pelzstola zurecht und überlegte, ob sie sie vielleicht ganz abnehmen sollte, weil ihr in dem überfüllten Café allmählich zu warm wurde, als ihre Hände mitten in der Bewegung erstarrten. Vor dem Fenster hatte sie die Gestalt einer jungen Frau entdeckt, die über den Platz rannte, als würde sie verfolgt werden. Mehrmals warf sie gehetzte Blicke über ihre Schulter. Ihre Kleidung war zerrissen. Dann war sie aus ihrem Blickfeld verschwunden. Sie erinnerte Deborah an die zerlumpten Frauen und Kinder auf dem Lastwagen, die zweifelsohne in der kühlen Frühlingsluft gefroren hatten, während sie hier im Warmen saß und mit ihrem Pelz herumspielte. Sie hatte versucht, diese armen Menschen zu vergessen, um nicht mit ihren eigenen traurigen Erfahrungen konfrontiert zu werden - die Nacht, als Magda, ihre einzige Freundin, verschwand und Biene starb. Sie ahnte, dass ihre Freundin tot war. Deborahs Wall aus Verdrängen und Schmerz bröckelte in diesem Augenblick. Sie hatte diese Menschen gesehen und sie fühlte für sie sowohl Mitleid als auch Verantwortung.
„Sag, Marlene“, unterbrach Deborah den Redefluss der jungen Schauspielerin abrupt. „Was waren das für Menschen vorhin auf den Lastwagen? Doch sicherlich nicht alles Verbrecher, wie du gesagt hast? Oder sperrt man in dieser Stadt ganze Familien ein?“ In Marlenes Augen blitzte es kurz auf und über ihr Gesicht huschte ein merkwürdiger Ausdruck zwischen Erschrecken und Warnung. Aber er verflog so schnell, dass Deborah glaubte, sich darin getäuscht zu haben. Marlenes Stimme klang absolut gleichmütig, als sie antwortete: „Lass gut sein, Chérie. Das ist Politik. Sie geht uns nichts an.“
„Das mag sein. Aber machst du dir denn gar keine Gedanken über diese Menschen?“
„Warum sollte ich? Ich kenne sie doch gar nicht“, erwiderte Marlene achselzuckend und schenkte über Deborah hinweg einem gut gebauten blonden Offizier der Waffen-SS ein strahlendes Lächeln.
„Da befanden sich auch eine Menge kleiner Kinder darunter, sogar Säuglinge. Was bitte hat ihr Abtransport mit Politik zu tun?“ Deborah ließ nicht locker und ihr Ton hatte beträchtlich an Schärfe gewonnen.
Marlene beugte sich zu ihr hinüber und legte ihr beschwichtigend die Hand auf den Arm. „Das hier ist nicht der richtige Ort, um über Politik zu sprechen. Glaub mir das. Ich für meinen Teil will die Welt genießen und sie nicht verstehen! Das solltest du auch, ma chérie. Lass die Männer nur machen, die werden schon wissen, was sie tun.“ Wie um das Thema abzuschließen, schnippte sie nach der Kellnerin, einem verhuschten Ding, das ständig aufdringliche Männerhände abzuwehren hatte, aber dienstbeflissen heraneilte.
Marlene orderte ein weiteres Glas Champagner für sich, nachdem sie kopfschüttelnd festgestellt hatte, dass Deborah ihr Glas bisher kaum angerührt hatte: „Lass uns lieber über etwas Erfreulicheres reden, ma petite. Zum Beispiel über deinen Albrecht. Alors, du hast echtes Glück! Er sieht wirklich gut aus. Absolut très jolie! Den hätte ich mir auch gerne an Land gezogen, ehrlich“, seufzte sie. „Und das Beste ist, er ist nicht einmal verheiratet, was man so hört. Wenn ich da an meinen Ernst denke, na ja …“ Marlene brach ab und schwieg ausnahmsweise. Offensichtlich war sie zu dem
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