Honigtot (German Edition)
Augen, intensivierten noch ihre mädchenhafte Erscheinung. Leider kämpfte ihr empfindsames Gemüt seit Alexanders Tod gegen die Dämonen der Depression an und sie hatte bereits zwei längere Aufenthalte in einer exklusiven Klinik hinter sich.
„Entschuldigen Sie, Frau Baronin. Ich meinte, dass die Herren die Mahagoniverkleidung abgenommen haben. Dahinter haben sie eine versteckte Nische voller alter Bücher gefunden. Das ist alles ganz furchtbar staubig da drinnen“, fügte sie hinzu.
„Oh“, entfuhr es Evelyn von Stetten, der die Nachricht sichtlich nicht behagte. Seit Jahren hatte sie ihrem Mann in den Ohren gelegen, bis er endlich zugestimmt hatte, Teile der veralteten Heizung, die noch aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhundert stammte, zu erneuern. Immer wieder hatte sie morgens beim Frühstück geklagt, wie schlecht sie nachts schlafen konnte und ihr die Rohre mit ihrem beständigen Gurgeln Kopfschmerzen bereiten würden.
Heinrich von Stetten war jede noch so kleine Veränderung in dem Haus, das sich seit über zweihundert Jahren im Besitz seiner Familie befand, zuwider. Auch liebte er die vertrauten, nächtlichen Geräusche des Hauses, mit denen er aufgewachsen war.
„Also gut, Alma. Dann wollen wir uns das einmal anschauen.“ Mit beiden Händen strich Evelyn kurz über ihren bodenlangen Kaftan. Dann folgte sie der vor ihr hertrabenden Haushälterin nach unten.
Dort begrüßte sie mit einem kurzen Nicken die beiden Fuggas und wandte sich sogleich dem Fund in der freigelegten Nische zu. Beflissen sprang der ältere Fugga herbei und leuchtete mit der Taschenlampe hinein. Er hatte inzwischen zwei weitere Kassetten herausgelöst, so dass die Baronin einen uneingeschränkten Blick in die Öffnung werfen konnte. Reihen von Büchern stapelten sich darin. Sie griff nach einem der Bände. Es war eine Ausgabe der Luther-Bibel von 1529, wie sie der Prägung an der Innenseite entnahm. Gedankenverloren reichte sie das Buch an Frau Gabler weiter, die ein Tuch aus ihrer Schürze gezogen hatte und die Bibel sofort vom feindlichen Staub befreite.
Währenddessen hatte die Baronin ein weiteres Buch herausgezogen. Es war eine Erstausgabe mit dem Titel „Cautio Criminalis“, jedoch war kein Verfasser angegeben. Aber sie fand eine Widmung mit Datum: Ein Friedrich Spee von Langenfeld schenkte das Buch 1632 jemandem, dessen Namen sie nicht entziffern konnte. Nach zwei weiteren Bänden wusste sie, dass sie genug gesehen hatte.
Evelyn von Stetten hatte zu lange mit einem von antiken Büchern und Manuskripten besessenen Mann zusammengelebt, um nicht zu erkennen, dass der Fund außergewöhnlich war. Womöglich handelte es sich hier sogar um einen Teil des angeblich verschollenen Familienschatzes. Immer wieder hatten Mitglieder der Familie von Stetten aufgrund eines hartnäckigen Familiengerüchts nach dem Schatz geforscht. Unvermittelt überkam die Baronin eine Welle der Heiterkeit. Welch Ironie des Schicksals, dass der sagenumwobene Schatz, der in den Fantasien der Erzähler von Generation zu Generation zu einem wahren Berg prachtvoller Edelsteine, Gold- und Silbermünzen angewachsen war, sich jetzt womöglich als ein Haufen verstaubter Bücher entpuppte.
Allerdings konnte Evelyn sich niemanden vorstellen, der weniger enttäuscht darüber wäre, dass es sich um einen Schatz des Wissens handelte, als ihr Mann. Diese verschollene Bibliothek war das magische Camelot Heinrich von Stettens. Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Wenn sie ihm jetzt von dem Fund berichtete, würde er sofort in sein Flugzeug steigen und zurückkommen.
Mit seinen beinahe Siebzig leitete Heinrich von Stetten das Familienunternehmen, das unter anderem in der Rüstungsindustrie tätig war - bekannt wegen der präzisen Lenkwaffen und viele Regierungsaufträge erhielt -, als Mehrheitsaktionär und Vorstandsvorsitzender.
Plötzlich hatte Evelyn die rettende Eingebung. Sie wusste, wen sie anrufen konnte. Sie wandte sich an die beiden Fuggas: „Meine Herren, wir lassen die Arbeiten in der Bibliothek vorerst ruhen. Ich schlage vor, Sie machen in den Räumen meines Mannes im Obergeschoss weiter. Frau Gabler wird Ihnen den Weg zeigen. Alma, wären Sie bitte so freundlich?“, wandte sie sich an ihre Haushälterin.
Die beiden Fuggas packten ihre Werkzeuge zusammen. Sie schickten sich eben an, der Haushälterin zu folgen, als Frau von Stetten sie zurückhielt: „Meine Herren, eines noch. Ich bitte Sie, hierüber Stillschweigen zu wahren. Der Fund betrifft
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