Honigtot (German Edition)
mehr waren die Juden Blitzableiter und Sündenbock für alles, sogar die Schuld am verlorenen Krieg schob man auf sie, stempelte sie entweder als Feiglinge ab, die sich vor der Front gedrückt hatten, oder stellte sie in Karikaturen, Plakaten und Flugblättern, die das Land immer mehr überschwemmten, als durchtriebene Kriegsgewinnler dar.
Auch der Sieger von Tannenberg, Generalfeldmarschall von Hindenburg, hatte zur negativen Meinungsbildung beigetragen, indem er mit seiner Aussage vor der Weimarer Nationalversammlung 1919 die Dolchstoßlegende mitbegründet hatte. Er behauptete , dass das deutsche Heer „im Felde unbesiegt“ geblieben und erst von vaterlandlosen Zivilisten und Novemberrevolutionären aus der Heimat „von hinten erdolcht wurde.“ Die öffentliche Reaktion darauf war Empörung und sie war vor allem durchgängig einseitig – denn damit konnte der Generalfeldmarschall nur auf „die Juden angespielt haben.“
Nicht genug, verbreitete sich immer mehr die Legende einer jüdischen Weltverschwörung durch die unsäglichen „Protokolle der Weisen von Zion“, einer Schmähschrift, die reißenden Absatz fand. Gustav hatte sie gelesen und nur den Kopf schütteln können. Er seufzte. Wann würden die Menschen endlich klüger werden? Warum fielen sie immer wieder auf dieselben Hasstiraden herein? Und warum war es so einfach, den Leuten etwas Schlechtes einzureden? Warum ließen sie sich für Negatives so leichtgläubig und empfänglich instrumentalisieren, fragte er sich nicht zum ersten Mal. Er war Jude, nicht besser oder schlechter als jeder andere, ein ganz normaler Mensch.
Derweil torkelte das Land im politischen Trubel unentschlossen dahin, zerfiel und verlor sich in endlosen und fruchtlosen Zwistigkeiten und das deutsche Volk blutete dabei aus. Krieg und verfehlte Politik hatten unweigerlich in die Hyperinflation geführt.
Im Oktober 1923 kostete der Laib Brot 58 Millionen Reichsmark; die Menschen gingen mit Schubkarren voller wertloser Geldscheine zum Einkaufen und kamen mit fast nichts darin zurück.
Die Menschen fanden keine Arbeit, litten Hunger und verloren die Hoffnung auf bessere Zeiten. Nicht die Politik regierte, sondern das Elend herrschte.
Es war ein gefährlicher Nährboden für böse Ränke und extreme Gestalten.
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Zur Freude der Eltern erfüllte sich das günstige Horoskop Deborahs bereits in der Wiege: Deborah wurde mitten in den Beginn der Goldenen Zwanziger hineingeboren, gerade als das Land begann, sich wieder in leiser Hoffnung zu erheben.
Denn ab November 1923 stabilisierte sich die Lage in Deutschland durch die Währungsreform und den Dawes-Plan, der den wirtschaftlichen Möglichkeiten der strauchelnden Weimarer Republik angepasst wurde.
Der zarte Neuankömmling reagierte schon sehr früh auf jegliche Form von Tönen und Klängen. Kaum, dass Elisabeth ein Wiegenlied für das Kleine angestimmt hatte, verfiel es in strampelnde Verzückung, holte mit Ärmchen und Beinchen aus und schlug einen ihm noch unbewussten Takt.
Zu ihrem Leidwesen musste die junge Mutter sehr bald erkennen, dass das Kind dem eigentlichen Zweck des Gesangs, nämlich in den Schlaf zu sinken, nicht folgte. Im Gegenteil, das Kind schien nicht gewillt, sich mit unmusikalischer Stille zu begnügen: Sobald Elisabeths Lied verstummte, lief das kleine Gesicht rot an und forderte mit Löwengebrüll eine Zugabe ein.
Selbst ein bühnenerprobter Sopran wie der der Elisabeth Malpran stieß nach einigen Stunden ununterbrochenen Gesangs unweigerlich an seine physischen Grenzen. So das Nervenkostüm des Vaters, fortan dazu verurteilt, die Nächte schlaflos im Ehebett zu verbringen, bis Frau und Kind, allein der Erschöpfung geschuldet, endlich gemeinsam über den Rand in den Schlaf fielen.
Das war natürlich auf Dauer kein Zustand. Der Vater, nicht nur Mediziner, sondern auch ein tiefsinniger Denker, lebte nach der Überzeugung, dass es für jedes Problem auch eine Lösung geben musste. Eines Abends kehrte er mit einem nagelneuen Victrola-Koffergrammophon zurück, das er im Kinderzimmer aufstellte.
Mit wissenschaftlichem Eifer widmete sich der frischgebackene Vater fortan der Aufgabe, den Säugling allerlei phonetischer Experimente zu unterziehen. Zunächst galt es herauszufinden, wie das Kind auf andere weibliche Stimmen wie die der berühmten Sopranistinnen ihrer Zeit, Kirsten Flagstadt oder Mary Garden, reagieren würde. Das Ergebnis lautete, dass die kleine Deborah weiblichen Gesang
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