Honigtot (German Edition)
jeglicher Art und Situation mochte. Ausschlaggebend schien hier einzig und allein die Dauerbeschallung zu sein.
Dann spielte Gustav die erste Aufnahme eines männlichen Interpreten ab. Er besaß einige der wenigen kostbaren Aufnahmen von Enrico Caruso, den er beinahe wie einen Gott verehrte. Deborah mochte auch diese Jahrhundertstimme, als besonders erfolgreich erwies sich bei ihr die Arie `La donna e mobile´ aus Verdis Rigoletto.
Dass die Oper ursprünglich den Namen `La Maledizione - Der Fluch ´ getragen hatte, war dem Doktor nicht geläufig.
Die Methode hatte allerdings einen fatalen Nachteil: 1924 musste jede 25er-Schellackplatte sorgfältig aufgelegt, die empfindliche Nadel ständig von möglichem Staub frei gepustet werden und die maximale Spieldauer von sechs Minuten reichte nicht aus, damit das Kind in den von den Eltern herbeigesehnten Schlaf fiel. So taumelten denn Gustav und Elisabeth manche Nacht abwechselnd und traumverloren im Sechs-Minuten-Takt durch die Flure, um die Platte erneut abzuspielen. Der Einschlaftrick funktionierte bei weitem nicht immer und nutzte sich mit der Zeit auch etwas ab.
Gustav beschloss, den nächtlichen Exkursionen ein Ende zu setzen und berief ein neues Haushaltsmitglied: Magda, die fünfzehnjährige Nichte der Köchin Bertha.
Ohne es zu ahnen, begründete er damit einen neuen Berufsstand, der jedoch erst Jahrzehnte später als solcher anerkannt werden würde: Den der „Plattenwechslerin“.
Magda selbst war ein unscheinbares Mädchen mit glänzendem Mittelscheitel und dünnen Zöpfen, ein scheues Etwas, das kaum je den Kopf hob. Ihr gesamter Wortschatz schien aus einem geknicksten ´Ja, gnädige Frau´, `Ja, gnädiger Herr´ und `Danke´ zu bestehen. Zudem hatte sie eine Heidenangst vor ihrer Tante Bertha, die ihren Kochlöffel nicht nur in den Töpfen schwang.
Immerhin, unter dem unscheinbaren Häubchen verbarg sich ein flinker Geist mit einer raschen Auffassungsgabe. Vom ersten Tag an ging Magda ihrer Aufgabe mit Feuereifer nach. Sehr schnell wuchs sie mit dem Koffergrammophon zusammen, reinigte und pflegte es, tauschte abgenutzte Nadeln und konnte bald kleine Defekte selbst beheben. Die Schellackplatten selbst behandelte sie wie kleine Kostbarkeiten. Elisabeth schenkte ihr für die Reinigung extra zwei Paar ihrer Fingerhandschuhe. Man traf Magda nie mehr ohne sie an.
Mit Magdas Ankunft wurden die Nächte endlich wieder friedlich; Eltern und Kind gediehen die nächsten Jahre prächtig und alle waren zufrieden. Der Doktor arbeitete viel und Elisabeth erfreute sich an Deborah.
Zweimal wöchentlich nahm Elisabeth Gesangsstunden bei Frau Lehmann, übte selbst täglich am Pianoforte und hielt Stimme und Finger mit Tonleitern geschmeidig - die kleine Deborah in ihrer Wiege immer an ihrer Seite.
Trotzdem vermisste die Sängerin Elisabeth bald die Oper: Die Proben mit gleichgesinnten Kollegen, die fiebrig angespannte Erwartung des Künstlers vor einem Auftritt, die Soli und die Duette, und endlich die Erlösung durch den Beifall des Publikums.
Sie sprach daher mit Gustav und bald darauf wuchs der Haushalt um ein weiteres Mitglied an. Die ältliche Kinderfrau Klara Schnapphahn - leicht schielend, aber mit besten Referenzen - hielt Einzug am Prinzregentenplatz 10.
So konnte Elisabeth endlich dem Ruf an die Mailänder Scala folgen, der sie zwei Jahre zuvor eine Absage hatte erteilen müssen.
Das Publikum hatte Elisabeth Malpran nicht vergessen. Niemals hatte es unter dem Maestro Arturo Toscanini eine hinreißendere Violetta gegeben, so der Tenor der überwältigten Presse am nächsten Morgen. Ein Kritiker ließ sich in seinem Überschwang sogar zu der Behauptung hinreißen, dass die Künstlerin selbst dann überzeugt hätte, wenn sie überhaupt nicht gesungen hätte - so sehr hatte auch ihre Darstellung das Publikum zu fesseln vermocht.
Elisabeth lief am Ende beinahe Gefahr, unter den vielen Blumen, die die Bühne erreichten, begraben zu werden, und die ihr geltenden Vorhänge und Bravorufe konnten nicht mehr gezählt werden.
Bei all dem Erfolg liebte Elisabeth ihr Kind Deborah zärtlich und ließ es niemals länger allein. Sie lehnte daher die vielfachen Einladungen an die bedeutende New Yorker Met und die Opern von Chicago und San Francisco ab, weil diese Engagements sie zu lange von ihrem Kind getrennt hätten. Für Deborah verzichtete Elisabeth auf die sichere Weltkarriere.
Kapitel 1 1
Mitte 1929 rückte der Nationalsozialismus näher, und
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