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Honigtot (German Edition)

Honigtot (German Edition)

Titel: Honigtot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanni Münzer
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blätterte mit Seelenruhe in ihren Notenblättern – bereits auf der Suche nach der passenden Inspiration.
    Gustav indessen war erstarrt. War er eben noch hochrot gewesen, war nun alles Blut aus seinem Gesicht gewichen.
    Doch es war weder Ärger noch Verwunderung über so viel elisabethanische Wahrheitsverweigerung, die Gustav in diesen Zustand jähen Entsetzens versetzt hatte. Es war ein einziges Wort gewesen, das das Grauen der Kriegsbestie freigesetzt und die Dämonen seines Geistes beschworen hatte. Vegetarier … Wie ein Feuerrad raste die Erinnerung durch ihn hindurch und Gustav fand sich jäh auf die Schauplätze des furchtbarsten Krieges der Menschheitsgeschichte katapultiert: Verdun, Somme und Ypern hießen die Schlachtfelder, wo dem Grauen durch Giftgas neue Dimensionen eröffnet worden waren.
    Schlachtfeld war ein ebensolches Wort, das er aus seinen Gedanken verbannt hatte. Denn es war eine Schlachterei unter den Menschen gewesen. Die neuen modernen Waffen wie Panzer, Granaten und Maschinengewehre hatten ein entsetzliches Gemetzel auf beiden Seiten angerichtet. Dabei hatte es an allem gefehlt, um die Leiden zu lindern: An Ärzten und Krankenschwestern, an Betten, Decken und Verbandsmaterial, und viel zu schnell waren Medikamente und Schmerzmittel zu Ende gegangen.
    Nur an einem hatte es niemals gemangelt: An Toten und Verwundeten - Unzählige vom Gas erblindet oder an den Gliedmaßen verstümmelt. Und sie alle schrien, fluchten, flehten - hoffnungslos. Ein schauriger Chor, vereint in Schmerzen und Verzweiflung. Dies ist die wahre Stimme des Krieges, dachte Gustav. Die Stimme, die alle Unverbesserlichen hören sollten, anstatt der begeisterten ` Es lebe der Kaiser ´-Rufe, zusammen mit dem Säbelgerassel marschierender Reihen von Pickelhauben, jubelnd verabschiedet von einer Menge, die Blumen warfen, geblendet von falschem Patriotismus.
    Dabei war es nicht die surreale Aneinanderreihung der Bilder, die ihn lähmte, als er gezwungen war, Arme und Beine ohne jede Betäubung am laufenden Band zu amputieren - die Patienten dabei verschnürt wie Pakete, damit sie sich in ihrer Agonie nicht bewegen konnten.
    Nein, es war die Erinnerung an den jungen, noch bartlosen Leutnant, der in seinem Blut vor ihm lag und dabei seinen eigenen, abgerissenen Unterschenkel an seine Brust drückte, als wäre er sein Kind. Gustav sah das junge kräftige Bein vor sich, das noch immer im Stiefel steckte. Es bedurfte zweier strammer Burschen, um es dem Leutnant unter gellenden Schreien zu entreißen.
    Später am Nachmittag hatte er für eine zu kurze Pause das Krankenzelt verlassen. Obwohl er es zu vermeiden suchte, verfing sich sein Blick auf dem täglichen Berg abgetrennter Gliedmaßen; Arme und Beine von Großvätern, Vätern und Söhnen, Brüdern und Ehemännern.
    Bis vor kurzem noch lebendes Fleisch, jetzt nicht mehr als nutzloser Kriegsabfall, bereit, verbrannt zu werden. Er beobachtete einen Sanitäter dabei, der sich einen abgetrennten Unterschenkel herausgriff und ihm den guten Stiefel auszog - im Krieg wurde nichts verschwendet außer Menschenleben -, und der Doktor erkannte darin Bein und Stiefel des Leutnants wieder.
    Seit jenen Tagen, an denen er mehrmals täglich den Geruch von verbranntem Menschenfleisch hatte ertragen müssen, hatte Gustav nie mehr ein Stück Fleisch angerührt.
    Hitler hingegen, so glaubte Gustav, verzichtete aus anderem Grund darauf. Gustav hatte ihn einige Male im Münchner Café Heck gesehen und dabei waren ihm dessen ungesunde Blässe und die verkniffenen Gesichtszüge aufgefallen. Vermutlich litt der Mann an einem Magenleiden und heftigen Flatulenzen.
    Er hatte über Hitler auch sagen hören, dass seine eigenen Kriegskameraden ihn nie gemocht hatten. Sie hielten ihn für obrigkeitshörig und einen Stiefellecker. Darum hatten sie ihm auch einen gehässigen Spitzennamen verpasst: Weißer Rabe .
    Es ist so traurig wie dumm, sinnierte Gustav weiter; die Welt könnte ein Paradies sein – wenn die Menschen nur Frieden halten könnten.
    Mit einem gallebitteren Geschmack im Mund trat er die geistige Rückreise aus Frankreich an. Er kehrte in die Gegenwart zurück und fand sich an der Seite seiner wankelmütigen Frau wieder. Elisabeth absolvierte erste stumme Fingerübungen am Klavier.
    Der Doktor tat dann selbst so, als wäre nichts gewesen und am 24. Dezember im Jahre 1924 begingen sie eine wunderschöne erste Weihnacht mit ihrem Töchterchen Deborah.

 
     

    Kapitel 1 2
     
     
    Wenige Tage

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