Honigtot (German Edition)
Doktor und Ottilie. Was würde Bertha dazu sagen?
Die Vorstellung von ihrer Tante Bertha, die sich fortan nicht mehr aus dem Haus wagen würde, beim Beten langsam verhungern und alsdann ihre Knochen in der Küche bleichen würden, wäre es Magda beinahe wert gewesen. Schon war der Moment des Zauderns überwunden. Die Situation erforderte Taten und Lösungen!
Systematisch ging Magda Gustavs Schreibtisch durch und fand alsbald das Gesuchte: Eine Visitenkarte der Kanzlei Finkelstein & Partner. Der Doktor hatte Herrn Finkelstein bei einem Gespräch mit der Dame Elisabeth unlängst als seinen Rechtsbeistand erwähnt.
Magda redete zwar selbst wenig, dafür hörte sie umso aufmerksamer zu. Nicht, um zu lauschen, sondern um zu lernen. Wie ein großer Schwamm sog sie alles in sich auf, Wichtiges und Belangloses, Triviales und Interessantes. Zwar konnte sie die einzelnen Informationen nicht immer unter den richtigen Kategorien einordnen, da ihr oftmals die Zusammenhänge fehlten, aber sie war eine Meisterin der Stimmen. Sie konnte allein am Tonfall der gnädigen Herrschaften den Grad der Bedeutsamkeit des Gesprochenen ermitteln und so Informationen von Belang erkennen.
Schon in der Dorfschule, die sie auf Wunsch des Vaters nach nur drei Jahren hatte verlassen müssen, da ihre Arbeitskraft auf dem Hof gebraucht wurde, hatte sie eine Ahnung davon bekommen, dass es – neben der ´hohen` Geburt – die Bildung war, in deren Händen der Schlüssel lag, der Zutritt in die Welt der Privilegierten gewährte. Insofern entpuppte sich die Anstellung bei den gnädigen Herrschaften für sie als Glücksfall, sie wurde zur Schmiede ihrer Wünsche und zur Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Sie würde alles für ihre Herrschaft tun, die sie stets dazu ermuntert hatte, zu lernen; von Anfang an hatte Magda auch an Deborahs Hausunterricht teilnehmen dürfen, kaum, dass sie ihren Wunsch hierzu geäußert hatte.
Sie führte deshalb auch alle ihre Ersparnisse mit sich, falls der Advokat eine Anzahlung forderte. Sie waren mager genug und sie war froh, dass die Kanzlei Finkelstein in der Briennerstraße lag. Wegen der Eile hätte sie sonst eine Droschke nehmen müssen. Trotzdem war es nicht der nächste Weg, aber sie legte ihn ohne Pause im Laufschritt zurück.
Die Briennerstraße war dann ein echter Schock für Magda – denn dort herrschte eine rege Betriebsamkeit in braun und paramilitärisch.
Sie erinnerte sich nun, dass der Doktor dem Kindermädchen Klara gesagt hatte, er wünsche nicht, dass sie den täglichen Spaziergang mit Deborah in diese Richtung ausdehne.
Denn dort, in Nummer 45 im Palais Barlow, residierte die NSDAP in ihrem Hauptquartier. Man sah gleich, dass die Partei, mit viel Industriellengeld bespendet, davon viel in die Stoffindustrie investiert hatte. Magda fühlte sich von dem blutroten Fahnenpomp abgestoßen. Auf dem Bronzeportal des Haupteingangs prangten Hakenkreuze und beim Näherkommen konnte sie darauf die Parteiparole lesen: „Deutschland erwache“.
Die Empfangsdame der Kanzlei Finkelstein & Co., nur ein paar Häuser weiter, erschien kaum weniger vornehm als die gesamte Örtlichkeit. Sie musterte Magdas Erscheinung in einer spitzlippigen Art, als sei es unter ihrer Würde, auch nur ein Wort an sie zu verschwenden. Natürlich weigerte sie sich strikt, das Anliegen der Unerwünschten weiterzuleiten.
Magda blieb hartnäckig und trug mit fester Stimme vor, dass der Doktor persönlich sie gesandt habe, um mit dem Herrn Finkelstein eine ` dringende Angelegenheit von finanzieller Lukrativität ´ zu regeln.
Das war ein gepflegter und schwieriger Satz und `finanziell und lukrativ´ waren seit jeher Worte, die man in jeder Kanzlei mit Wohlwollen vernahm. Das hochmütige Benehmen der Empfangsdame schrumpfte auf beinahe höfliche Beflissenheit zusammen und Magda wurde nach erfolgter Rückfrage in das Büro des Samuel Finkelstein vorgelassen.
Samuel Finkelstein sah mit seinen ausgeprägten Gesichtszügen und der schönen kräftigen Nase ausgesprochen gescheit aus, als kenne er das Leben in all seinen Besonderheiten und Erscheinungsformen.
Magda gefiel er auf Anhieb, denn er hatte den gleichen ruhigen Blick wie der Doktor, einen Blick, der besagte, dass es nichts gab, angesichts dessen man verzagen musste, und sehr vieles, wofür es sich lohnte, sein Bestes zu geben.
Der Advokat hörte sich Magdas Bericht ernst und aufmerksam zu Ende an und stellte erst dann eine Reihe von Fragen. Dann erhob er sich, rief die
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