Honigtot (German Edition)
und moralische Verrohung der herrschenden Kaste. Unter der Bezeichnung Reichskristallnacht würde sie Eingang in die Geschichtsbücher finden. Elisabeth fand, dass dieses harmlos klingende Wort der furchtbaren Tatsachen und Taten dieser Nacht lange nicht gerecht wurde. Aber im Grunde konnte es dafür gar kein Wort geben.
Trotz der unzähligen von SA-Männern gelegten Feuer gab es fast keine Schäden an arischen Häusern zu beklagen.
So wie in München schrillten die Feuerwehrsirenen im Land auf und ab, doch die ausgegebene Parole lautete nicht, vorrangig zu löschen, sondern zu verhindern, dass sich ein jüdisches Feuer verselbständigte und auf ein arisches Haus übergreifen konnte. Denn das deutsche Volk musste bei Laune und in Gottvertrauen auf den Führer gehalten werden. Und das deutsche Volk lernte schnell. Es lernte vor allem wegzusehen und sich still zu verhalten, dann traf das Unglück nur die Anderen. Ein ganzes Volk schlug sich freiwillig mit Blindheit.
Als Elisabeth am Fenster stand, überlegte sie, mit welcher Virtuosität die Nationalsozialisten auf dem Instrument des Terrors spielten und die Partitur der Diktatur beherrschten: Die Solisten laut und fanatisch, der völkische Chor still und passiv, damit ja keiner die Aufmerksamkeit der Dirigenten auf sich lenkte und den staatlichen Taktstock zu spüren bekam.
Die Ouvertüre für Vernichtung und Untergang hatte mit einer verheerenden Endgültigkeit begonnen. Sie war weit bis in die Welt hinaus zu hören gewesen, doch die Antwort blieb lange aus.
Elisabeth hatte in jener Nacht die Möglichkeit der Katastrophe begriffen: Ihre beiden unschuldigen Kinder würden in diesem von den Nationalsozialisten beherrschten Land niemals sicher sein.
* * * * *
Erneut wandte sie sich an die britische Botschaft um Hilfe. Doch dieses Mal erwies sich ihr Ansinnen als weit hindernisreicher – obwohl sie in London den Bruder ihres Mannes als ihren Bürgen vorweisen konnte.
Inzwischen überstiegen die Auswanderungswilligen die Einwanderungsquoten und daher wurde verlangt, vorab ein Deposit auf einer Bank in England zu hinterlegen, die die Lebenshaltungskosten für Elisabeth auf fünf Jahre und für die ihrer Kinder auf zwei Jahre abdecken sollten. Elisabeth hatte die entsprechende Summe nicht zur Verfügung.
Doch anstatt Paul Berchinger darum zu bitten, verfiel sie auf die fatale Idee, dafür Teile ihres Schmucks zu verkaufen.
Das war schnell überlegt, aber schwer umzusetzen, wie Elisabeth bald erfahren musste. Denn leider nutzten eine Menge Ausreisewilliger diese Maßnahme der Geldbeschaffung; das verzweifelte Angebot überstieg bei Weitem die Nachfrage und trieb die Preise stetig nach unten.
Mit Hilfe der Kontakte ihres amerikanischen Freundes Mr Lochner gelang es Elisabeth trotzdem, einige ihrer Schmuckstücke zu verkaufen - wobei sie Mr Lochners Angebot ausschlug, ihr bei der Organisation der Ausreise behilflich zu sein. Sie wollte ihn nicht in Schwierigkeiten bringen.
Dies war zwar eine noble Geste, aber leider nicht sehr klug, wie sich bald herausstellen sollte.
Die Vorbereitungen für die Flucht zogen sich bis in das Frühjahr 1939 hinein, vor allem auch, weil Elisabeth Ende März noch ein gut bezahltes, mehrwöchiges Engagement in Wien als Desdemona in Verdis Otello angetreten hatte. Sie konnte es sich nicht leisten, auf diese zusätzliche Einnahme zu verzichten.
Dann endlich hatte ihr widerstrebender Impresario seinen Teil erfüllt. Elisabeth hielt eine offizielle Einladung des Zürcher Luxushotels Baur au Lac für einen Liederabend in den Händen. Dies würde ihr als Vorwand dienen, für den Fall, dass sie im Zug erkannt werden würde.
Offiziell reiste sie nicht unter ihrem Künstlernamen, sondern unter Gustavs Nachnamen, den auch die Kinder in ihrem Pass trugen. Herr Brunnmann hatte schon vor Monaten auf ihre Bitte hin - selbstverständlich in Unkenntnis ihres Vorhabens - dafür gesorgt, dass in den Papieren der Kinder keinerlei jüdische Abstammung vermerkt worden war.
Am 09. Juni 1939, einem Freitag und fast exakt auf den Tag genau ein Jahr seit Gustav vermisst wurde, war es soweit:
Am Nachmittag würden Elisabeth, ihre Kinder und Magda den Zug in Richtung Schweiz besteigen. Es war dieselbe Verbindung, die auch Gustav gewählt hatte.
Kapitel 2 5
Deborah lag in ihrem Zimmer auf dem Bett und nahm bewusst Abschied von ihrem alten Leben. Ihre Mutter hatte sie gerade erst in ihren Plan eingeweiht. Morgen würden sie
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