Honigtot (German Edition)
bedurfte auch keinerlei Hilfe in Form eines gewichtigen Gesäßes.
Darüber war es Abend geworden. Deborah, die die Dämmerung gerne mochte, hatte bisher kein Licht in ihrem Zimmer gemacht. Die Umrisse der drei Koffer konnte sie daher lediglich als eckige Schemen wahrnehmen.
Seit vielen Jahren waren die Louis-Vuitton-Koffer die treuen Reisebegleiter ihrer Mutter. Einmal, bei einer Konzertreise, waren sie plötzlich verschwunden gewesen und erst Wochen später im Bühnenfundus wieder aufgetaucht. Ein Arbeiter hatte die extravaganten Stücke versehentlich für Requisiten gehalten.
Ihre Mutter war zwischenzeitlich untröstlich gewesen, sie liebte ihre Koffer. Ihr Vater hatte sich damals den Scherz erlaubt und einen Nachruf auf ihre Koffer verfasst. Deborah hörte noch immer seine Stimme in ihrem Kopf deklamieren: „Es waren gute Koffer, ledern und stark und von hervorragender Eleganz. Wir werden die Erinnerung an die gute Verarbeitung und die edlen Gürtelverschlüsse stets in Ehren halten. Stets waren sie uns verlässliche Gesellen auf all unseren Wegen.“
Einst hatte Elisabeth die Koffer mit Besitzerstolz aus Paris mitgebracht, spontan erstanden auf den Champs-Elysées. Sie hatte für sie leichtsinnig ihre gesamte damalige Gage geopfert. Das war inzwischen mehr als achtzehn Jahre her und lange vor Deborahs Geburt gewesen. Elisabeth und ihre Koffer waren zusammen weit gereist und die drei besaßen sogar eigene Namen. Es entsprach einer Eigenart Elisabeths, für jeden Menschen und für jedes Ding eine spezielle Bezeichnung zu finden. Ihr Vater hatte die Neigung ihrer Mutter immer als die Enthüllung der Seele bezeichnet.
Den größten der drei Koffer hatte Elisabeth `Diva´ getauft, weil er ihre wunderbaren, maßgefertigten Bühnenroben beherbergte, den mittleren `Sophie´, dem alten griechischen Namen für Weisheit, der Partituren und Libretti wegen, die darin verwahrt wurden, und der letzte trug den Namen `Vanita´, Göttin der Eitelkeit. Er enthielt, natürlich, die umfangreichen Schminkutensilien und Perücken der Künstlerin Elisabeth. Ein magischer Schatz zur Verwandlung, in dem Deborah und ihre Mutter früher oft und unbeschwert geschwelgt hatten.
Die Koffer hätten in der Tat eine Menge zu erzählen gehabt, waren nicht nur verloren, sondern auch bereits gestohlen worden, aber stets hatten sie den Weg zu ihrer Besitzerin zurückgefunden, als würden sie ihre Pflichten und Funktionen kennen. Viele Male hatte Deborah die farbenfrohen Städteschilder daran bewundert, die von glanzvollen Zeiten und Reiselust zeugten.
Heute wirkten die bunten Papierschildchen auf Deborah irgendwie melancholisch, als verschlössen sie sich vor der Erinnerung.
In dieser Nacht fanden weder Elisabeth noch Deborah Ruhe, allein der kleine Wolfgang schlief den Schlaf des Sechsjährigen.
Am nächsten Tag verrannen die Stunden bis zur Abreise äußerst zäh; Elisabeth wollte so spät wie möglich aufbrechen, damit sie nicht auf dem Bahnhof zu lange warten mussten.
Bertha und Ottilie wussten zu ihrem eigenen Schutz nur so viel, dass Frau Elisabeth mit den Kindern auf Konzertreise ging, aber man war schon so lange beisammen, dass sie vermutlich etwas ahnten: Sie schienen nervös und lungerten auffällig oft in ihrer Nähe herum, bis Elisabeth zu ihnen sagte: „Also bitte, was ist denn heute nur los mit Euch zweien? Man stolpert ja öfter über Euch als über unseren Dackel!“
Elisabeth hatte für die beiden ein Kuvert mit einer kurzen Erklärung und dem Lohn für ein ganzes Jahr in ihrem Schlafzimmer deponiert, wo Ottilie es später unweigerlich finden würde.
Ungefähr eine halbe Stunde vor ihrem geplanten Aufbruch schlug die Türglocke an. Ottilie meldete kurz darauf der gnädigen Frau den überraschenden Besuch von Herrn Albrecht Brunnmann.
Sofort brach aufgeregte Hektik aus, weil die Koffer vom Flur schnell wieder in Deborahs Zimmer gebracht werden mussten.
Erst hinterher kam Elisabeth in den Sinn, wie sehr ein schlechtes Gewissen einen doch zu übereilten Handlungen antrieb. Sie hätte ja einfach das Gleiche behaupten können wie bei Ottilie und Bertha, nämlich, dass sie im Begriff stand auf eine Konzertreise zu gehen; Herr Brunnmann war Derartiges von ihr laufend gewöhnt. Stattdessen hatte sie damit jetzt Ottilie auf den Plan gerufen, deren konsternierter Blick ihr nicht entgangen war.
Da saßen sie nun, tranken Kaffee und plauderten höflich, während sich Elisabeth die ganze Zeit über zwingen musste, ihre
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