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Honigtot (German Edition)

Honigtot (German Edition)

Titel: Honigtot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanni Münzer
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erneut die Flucht aus der Heimat wagen.
    Sie dachte an ihren Vater Gustav und was wohl aus ihm geworden war. Wie ihre Mutter hoffte sie weiter darauf, ihn wiederzusehen.
    Lange bevor ihr Verstand in die Nähe eines bewussten Begreifens gerückt war, hatte Deborah bereits gefühlt, dass etwas Schlechtes um sich griff.
    Sie erinnerte sich daran, wie ihr kluger Vater ihr als kleines Mädchen erklärt hatte, wie alt diese Erde bereits war: Unvorstellbare viele Milliarden Jahre!
    Die Welt würde sich deshalb nur sehr langsam wandeln, friedlich und still atme sie im Rhythmus der Ewigkeit. Die kurze Zeitspanne des Menschen auf ihr war darum nur von kümmerlichem Belang. Vermutlich hatte die Erde noch nicht einmal bemerkt, dass der Mensch inzwischen auf ihr gewachsen war. Genau das jedoch bereitete dem jungen Mädchen Sorgen, denn sie hatte erlebt, wie rasend schnell sich die Welt in den letzten Jahren gewandelt hatte.
    Die selbsternannte Herrenrasse schlug gewaltigen Krach, getragen von einer ungeheuren und zerstörerischen Kraft. Sicher war die gepeinigte Erde inzwischen auf die Störung ihres Friedens durch den Menschen aufmerksam geworden?
    Deborah hatte diese Wandlung erstmals begriffen, als sie neun Jahre alt war - kurz nachdem Deutschland einen neuen Reichskanzler bekommen hatte und das Volk der Juden, zu dem auch ihr Vater gehörte, vom neuen Herrscher und seinen Gefolgsleuten als unerwünscht erklärt worden war.
    Onkel Fritz, der Zeitungsmann, dessen laute und bunte Gespräche mit ihrem Vater sie so gerne belauscht hatte, war bald darauf einfach verschwunden. Auch wenn sie noch sehr jung gewesen war und sich das Warum nicht richtig hatte erklären können, so hatte sie doch verstanden, dass die Gespräche, die ihr selbst so gut gefallen hatten, von den Anderen missbilligt wurden.
    Seitdem kam es ihr vor, als würde sich in ihrem jungen Leben ein Unheil an das andere reihen, sich eine Katastrophe auf die nächste türmen, als wäre das eine der Nährboden für das andere.
    In einer Woche würde sie fünfzehn Jahre werden. Ihren vierzehnten Geburtstag hatte sie in einer schmutzigen Gefängniszelle verbracht. Wo würde sie ihren fünfzehnten Geburtstag feiern? Bei Onkel Paul in London, an den sie sich kaum mehr erinnern konnte?
    Die Vorstellung der eigenen Zukunft kam Deborah unwirklich vor. Sie schob sie von sich, vielleicht weil sie in ihrem bisherigen Leben bereits die Erfahrung gemacht hatte, dass gerade die Dinge, denen man besonders entgegenfieberte, niemals so eintrafen.
    Fast fünfzehn und sie konnte die Verheißungen der Jugend in sich spüren, teilte die millionenfach geträumten Wünsche aller Mädchen dieser Erde - eine unbewusste, noch unerklärte Sehnsucht. Doch da war auch dieser latente Schmerz, der sie niemals mehr verließ, seit ihr Vater spurlos verschwunden war. Manchmal wachte sie morgens auf und war traurig. Dann überfiel sie eine unbestimmte Angst, dass das Glück sich für sie nie erfüllen würde.
    Aber sie wollte sich nicht traurig oder ängstlich fühlen, nicht heute. Tapfer trieb sie einen Keil zwischen ihre Gedanken und ihre irrationale Furcht, indem sie sich dem gegenständlichen Beweis ihrer Abreise zuwandte: Den drei gepackten Koffern, die in ihrem Zimmer bereitstanden. Einen für jedes Familienmitglied.
    Deborah hatte sie am Nachmittag selbst zusammengestellt. Ihre Mutter hatte sie darum gebeten, nachdem sie selbst an der Aufgabe gescheitert war: „Deborah, mein Spatzerl, bitte machst du das, ja? Du kennst mich - ich kann mich doch sonst schon nie für etwas entscheiden. Du wirst das viel besser machen als ich!“
    Wie stets bei an sie ergangenen Pflichten widmete sich Deborah diesen mit Gewissenhaftigkeit. Aber diese Aufgabe hatte sich schnell als unerwartet knifflig herausgestellt. Kein Wunder, dass sich ihre Mutter davor hatte drücken wollen.
    Die zentrale Frage, der sich Deborah stellen musste, lautete: Wie traf man eine Auswahl unter den Dingen, die bisher ein ganzes Leben ausmachten, wenn sie nur einen Koffer füllen durften?
    Sie hatte lange darüber nachgegrübelt. Bis sie zu dem tiefsinnigen Schluss kam, dass alles, was man auf den Boden werfen, zerbrechen, zerschneiden oder wie auch immer unwiderruflich zerstören konnte, also alles, dem ein physisches Gewicht eigen und von Menschenhand geschaffen worden war, niemals so kostbar sein konnte wie die Erinnerungen, die sie in unerschöpflichen Mengen mitnehmen konnte. Von da an war es leicht gewesen. Das Kofferschließen

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