Honigtot (German Edition)
wurden stumm.
Ich weiß, dass er seither oft davon träumt, weil auch ich immer noch davon träume. Sie nahmen uns Kinder beide mit, die stöhnende Magda ließen sie liegen. Sie kam uns aber dann nachgelaufen und bestand darauf, uns nicht alleine zu lassen. Da nahmen sie sie auch mit.
Unten wartete ein Lastwagen mit einer Plane. Sie warfen uns hinauf wie Pakete. Ich erinnere mich, wie eng es war, wir waren so viele und doch blieb genug Platz für die Angst. Magda saß neben mir, mein Bruder in der Mitte und wir drei klammerten uns aneinander. Die Fahrt dauerte nicht lange. Sie fuhren mit uns zum Güterbahnhof Milbertshofen und wir wussten, dass wir verreisen würden. Es kamen noch mehr Lastwagen an, mit noch mehr menschlichen Paketen.
Wir liefen zwischen all den anderen. Ich hielt meinen kleinen Bruder fest an meiner Hand. Wir mussten weit laufen, die Gleise entlang und viele stolperten. Für Wolferl mit seinem verkürzten Bein war es eine Tortur. Die Anderen trieben uns ständig an. Alles musste zügig gehen, als wollten sie uns ganz schnell wieder loswerden. Ich glaube, sie wollten nicht lange mit uns zu tun haben. Ihr Hass wirkte hastig. Wir selbst mussten still marschieren. Wer weinte, wurde geschlagen. Ich glaube, die Anderen fühlten sich durch unsere Klagen belästigt. Still und stumm sollten wir leiden und so sollten wir auch sterben.
Dann wurde es mit einem Mal doch laut. Ich konnte nichts sehen, es geschah weit vor uns. Ein Schreien und Flehen und dann: Schüsse! Wolferl zuckte bei jedem einzelnen zusammen. Dann näherte sich uns ein entsetztes Wimmern - es kam von ganz vorne und lief wie eine unheimliche Welle nach hinten weiter. Sie hinterließ Angst und Entsetzen bei jedem, den sie streifte, eine schreckliche Flüsterpost: Sie trennen die Familien! Dann waren das Wolferl und ich an der Reihe und sie rissen mir meinen Bruder weg. Ich schrie und kämpfte und dann packte mich jemand mit einem Lachen und trug mich weg. Magda kämpfte auch, aber sie schleiften sie davon. Ich fühlte diesen furchtbaren Hass und war doch so ohnmächtig und schwach, weniger als ein Nichts.
Seit dieser Nacht habe ich diese grausamen Töne in mir. Niemand außer mir kann sie hören. Sie toben in meiner Seele, misstönend und schrill, als wäre ich ein verstimmtes Instrument. Es zerreißt mir die Brust. Seit jener Nacht trage ich den fernen Klageton des Todes in mir und frage mich: Kann man an der Qual der inneren Töne sterben?
Deborahs junge Seele, deren Lebenslied wenige Tage zuvor noch verheißungsvoll erklungen war, war in jener Nacht in einem Choral aus Trauer und Hass zerborsten. Hass war Deborahs gefühlte Gegenwart, eine Mutation aus Bitternis und Leid.
Falls es jemandem aufgefallen wäre, dass eine Kinderseele erloschen war, dann und nur dann hätte ihr verwundeter Geist vielleicht Erlösung erfahren können.
Wieder erwies sich Herr Albrecht Brunnmann als Retter in der Not.
Nachdem er seinen Chauffeur weggeschickt hatte, um Dr. Strelitz, der zufällig in München weilte, für Frau Malpran zu holen, hatte er bei Elisabeth gewacht, bis sie das Bewusstsein wiedererlangt hatte und ihr in die Hand versprochen, dass er ihre Kinder nach Hause bringen würde. Er verließ Elisabeth erst, als Dr. Strelitz eingetroffen und ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht hatte.
Brunnmann trug auch Sorge dafür, dass alle Spuren der nächtlichen Geschehnisse beseitigt wurden. Am Mittag desselben Tages kehrte er zurück. Und bei ihm waren Deborah und Wolfgang.
Für Magda hatte er nichts erreichen können, offiziell blieb sie verschollen, aber Herr Brunnmann hatte in Erfahrung gebracht, dass sie beim Versuch, zu flüchten, erschossen worden war.
Wolfgang stand unter Schock. Er sprach nicht und ließ sich von seiner Mutter umarmen wie eine seelenlose Puppe.
Deborah warf sich zwar in die Arme ihrer Mutter, aber sie weinte nicht.
* * * * *
Herr Albrecht Brunnmann und Frau Elisabeth Malpran heirateten vier Wochen später, nachdem Gustav von den Behörden offiziell für tot erklärt worden war. Fortan standen Elisabeth und ihre Kinder unter Brunnmanns persönlichem Schutz.
Die Ehe ihrer Mutter mit Herrn Brunnmann blieb für Deborah ein schwebendes Rätsel. Sicherlich mochte eine gewisse körperliche Anziehungskraft zwischen den beiden herrschen, auch wenn Deborah dies mehr ahnte, als dass ihre Jugend es wirklich verstand. Herr Albrecht Brunnmann war ein sehr gut aussehender Mann und erinnerte mit seiner eleganten
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