Honigtot (German Edition)
besitzt sehr viel eigene Würde und gemessen an ihren siebzehn Jahren ist sie ihrer Entwicklung weit voraus. Sie lernt schnell und ihr Geist ist mutig und scharf wie eine Klinge. Du wirst dich daran schneiden, glaub mir. Also lass es. Denk lieber darüber nach, dass du jetzt eine Verantwortung hast - und zwar für zwei Kinder. Ich gehe jetzt.“ Er erhob sich.
„Nein, bleib!“, überraschte ihn Albrecht mit seiner Aufforderung. Ihm war soeben eine brillante Idee gekommen. „Sag, was würdest du mir denn wegen der Kinder raten, Leopold?“
Die Frage und insbesondere die Betonung rief Leopolds Misstrauen auf den Plan. Er ahnte sofort, dass sein Bruder etwas gegen ihn im Schilde führte. „Nun, wie ich dich kenne, Albrecht, wirst du deine Karriere weiterverfolgen und keine Zeit darauf verschwenden wollen, dich um die angeheirateten Kinder deiner verstorbenen Frau zu kümmern. Wie du weißt, habe ich sie in den letzten beiden Jahren häufig besucht und bin vertraut mit ihnen geworden. Sie sind beide etwas Besonderes, auch der Junge: Er ist hochintelligent, aufgeweckt und vielseitig interessiert. Du solltest daher weiter in ihre Ausbildung investieren. Ich selbst stelle mich gerne zur Verfügung und kümmere mich um die Wohlfahrt der zwei, während deiner häufigen Abwesenheiten.“
Allein die Art, wie Albrecht sich mit lässigem Selbstvertrauen im Sessel zurücklehnte, zeigte Leopold, dass er sich nicht geirrt hatte. Sein Bruder schien tatsächlich eine bestimmte Absicht zu verfolgen.
Dieser nahm nun noch einen Schluck aus seinem Glas und erwiderte dann: „Ich werde mich der beiden Kinder natürlich genauso annehmen, wie du es mir rätst, Bruder. Aber nur, wenn du mir dabei hilfst, Deborah für mich zu gewinnen.“
„Ach, und wie soll ich das bitte anstellen? Ich bin Priester und kein Heiratsvermittler.“ Leopold sagte dies äußerlich ruhig, fühlte jedoch, wie sich eine unterschwellige Spannung in ihm aufbaute - wie immer, wenn er glaubte, einer neuen Teufelei seines Bruders entgegenwirken zu müssen.
„Ein wunderbarer Antagonismus, Leopold. Da habe ich über den Klerus aber schon so einiges Gegenteiliges gehört. Aber das ist jetzt nicht die Debatte, nicht wahr? Hast du dich nicht eben damit gebrüstet, Deborah gut zu kennen? Also, wie stelle ich es an? Ich könnte sie mir natürlich auch mit Gewalt nehmen, weißt du?“ Er spielte mit dem Cognacschwenker und fuhr dabei mit dem Zeigefinger aufreizend den Glasrand entlang.
Leopold bewahrte Fassung. Es war nur ein Spiel, das sein Bruder bereits seit der Kindheit mit ihm trieb; die Frage dahinter lautete: Wie weit würde Albrecht diesmal gehen? Und was würde er, Leopold, tun, um ihm Einhalt zu gebieten?
Trotzdem war der Einsatz niemals so hoch wie heute gewesen. Hier ging es um einen Menschen, um ein junges Mädchen mit einer schönen und reinen Seele. Leopold war sich vollkommen darüber im Klaren, dass er seinem Bruder weder mit Anstand noch mit Moral zu kommen brauchte; diese Begriffe nahmen in Albrechts Wertesystem weder Rang noch Bedeutung ein.
Er versuchte es deshalb zunächst mit einer Taktik, die sich bisher meist zwischen ihnen bewährt hatte: Zynismus und Konterkarikatur - denn kaum etwas fürchtete sein Bruder Albrecht mehr, als sich selbst der Lächerlichkeit preiszugeben.
Leopold verließ sich bei seinen Überlegungen wie immer darauf, dass Albrecht kein echtes Selbstvertrauen besaß.
Der äußere Anschein ergab sich lediglich durch eine eiserne Selbstdisziplin, die er bereits als Junge gezeigt hatte – ein Resultat der Erziehung durch ihren despotischen Vater. Dazu gesellte sich eine geradezu anormale Selbstbeherrschung, eine an sich beachtliche Leistung, weil Albrecht es bisher stets bewerkstelligt hatte, seine gesamte Umgebung damit zu täuschen - bis auf seinen älteren Bruder.
Ohne es zu ahnen, irrte sich Leopold dieses Mal fatal in seiner Einschätzung.
Albrecht hatte in der Zwischenzeit eine Methode perfektioniert, um echtes Selbstbewusstsein entwickeln zu können. Eine Methode, die die selbsternannte Herrenrasse in Schande kultivierte, indem sie andere Menschen entwürdigte und bis in den Tod quälen durfte, weil man ihnen das Menschsein juristisch abgesprochen hatte. Morde an diesen Nichtmenschen wurden nicht nur nicht geahndet, sondern sie waren erwünscht und der Massenmord in Planung.
Hier entfaltete die grausame Psychologie des Regimes ihr ganzes, verkommenes Werk: Ein perfides System, in dem charakterlich defizitäre
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