Honigtot (German Edition)
Widerwillen und warf ihm seinen letzten Trumpf entgegen. Es war wie ein Schlag in das Gesicht des Älteren: „Und bedenke auch, Pater Leopold, wie viel Gutes du noch bewirken kannst. Wen du in Zukunft noch alles retten kannst.“
Leopold erstarrte in seinem Ohrensessel, als hätte ihn der Bann Gottes getroffen. Albrecht, er wusste es!
Der namenlose Schrecken, der ihn erfasste, als er an die vielen Menschen dachte, die ihm halfen und ihr Leben riskierten, indem sie jüdische Mitbürger versteckten, um sie außer Landes in Sicherheit bringen zu können, war mehr, als er glaubte, ertragen zu können. Und doch benötigte er nun seinen klaren Verstand. Denk nach, Leopold! Finde einen Weg, eine Möglichkeit, deinen Bruder zu überzeugen, dass er fehlgeleitet ist, dass er das nicht tun konnte! Leopold hob den Kopf, um zu kämpfen, blickte in das Gesicht seines Bruders und erkannte die unverhüllte Häme darin.
Viel zu spät begriff Leopold, wie lange sein Bruder auf diesen perfekten Moment der Demütigung gewartet, ja, darauf hingearbeitet hatte. Welch blinder Tor war er doch gewesen, dumm und überheblich und sich seiner gerechten Sache sicher, während sein Bruder Albrecht längst alle Vorteile in der Hand hielt ...
Da stand er nun mit dem Rücken zur Wand. Und er lud die Schuld auf sich und traf eine Entscheidung, die fatal und furchtbar war, eine Entscheidung, die ihn selbst für immer verändern würde: Er ließ sich auf die Mathematik des Teufels ein.
Und so tauschte der Priester Leopold eine Seele gegen viele ein und wusste, dass er dafür seine eigene für immer verlieren würde. Lange dehnte Leopold die Stille zwischen ihnen aus, um dem Satan noch einige weitere Minuten der Unschuld abzutrotzen.
Albrecht ließ ihn gnädig gewähren. Er wusste längst, wie vollkommen sein Sieg war.
Leopolds Stimme, monoton und kraftlos, zeugte von seiner innerlichen Erschütterung, als er alles, wofür er stand, der Gier seines Bruders opfern musste.
Und während er sprach, zerbrach mit jedem Wort ein Stück seines Selbst: „Zeig ihr deine Trauer um die Mutter. Das Mädchen verfügt über ein mitleidendes Herz; sie wird dir ihren Trost nicht versagen. Gib dazu den Einsamen und sag ihr, wie schwer es dir fällt, alleine zu bleiben. Trotzdem will ich dich noch einmal warnen, Albrecht: Das Mädchen wirkt zwar ruhig und gefasst, aber sie ist wie Musik, voller Schwingungen und einer glühender Hingabe für das, was sie liebt, und für das, an das sie glaubt. Darum wird sie in der Liebe nicht weniger leicht entflammbar sein als im Zorn. Wenn du sie daher verletzen solltest, so wird sie es dir mit gleicher Münze vergelten. Und Paulus sprach: Denn was der Mensch sät, das wird er ernten.“ Leopold verbarg sein Gesicht in den Händen und seine Schultern bebten. Er weinte um die Unschuld, und wegen seines Verrats und des künftigen Leids.
„Hätte mich auch gewundert, wenn du mir nicht zum Schluss einen deiner Bibelsprüche vor die Füße geworfen hättest, Bruder“, erwiderte Albrecht grob. Er erhob sich zum Zeichen, dass sein Bruder seine Schuldigkeit getan hatte und nun gehen durfte.
Leopold wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und erhob sich schwerfällig aus dem Sessel. Seine vor kurzem noch schwungvollen Bewegungen glichen jetzt jenen eines Greises.
„Sag mir, warum tust du das?“, fragte er seinen Bruder.
Albrecht grinste böse und antwortete ihm dann: „Weil ich es kann.“
Leopold ging, ohne sich zu verabschieden, ein gebrochener Mann mit müdem Schritt.
An diesem Tag zerbrach das Bündnis ihrer Brüderlichkeit endgültig. Leopold wusste, dass er sich Albrechts Dämonen nicht mehr länger entgegenstellen konnte und dass dessen Weg geradewegs in der Hölle enden würde. „Verzeih mir, Mutter“, flüsterte er.
Kapitel 3 4
Deborah war nach den Weihnachtsferien in das Konservatorium zurückgekehrt. Lediglich in der Welt der Musik konnte sie eine Weile Trost und Ablenkung vom Tod der Mutter erfahren.
Daher fiel es ihr nicht gleich auf, dass Leopold nur noch ins Haus kam, wenn sie selbst im Konservatorium weilte.
Wie sollte sie auch ahnen, dass Leopold davor graute, ihr zu begegnen, weil er ihr dann in die Augen hätte sehen müssen?
Leopold war bewusst, dass er sich feige benahm, und er trug schwer an dem inneren Konflikt. Doch er kümmerte sich rührend um Wolfgang, als wollte er an ihm alles wieder gutmachen, was er an der Schwester gefehlt hatte und künftig noch fehlen
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