Honky Tonk Pirates - Der letzte Horizont: Band 6 (German Edition)
der beste Beweis. Und Ihr, Baron, auch. Ja, Talleyrand, ich habe ein bisschen in Eurer Vergangenheit geschnüffelt. Die Ernte, der Traum von Kleidern und Schuhen und Mägen, die satt sind. Das Frösche peitschen. Das Gewitter. Der Winter, Hunger und der Tod.«
Er seufzte teilnahmsvoll und sagte zu Will:
»Und ich habe auch nicht vergessen, wie unsere Geschichte begonnen hat!«
Er tätschelte seinen Oberschenkel und bedeutete Will, sich auf diesem niederzulassen.
»Na, komm schon. Lass mich dein anderer Oheim sein. Lass mich dir auch etwas beibringen, damit dein Traum wahr werden kann.«
Will folgte zögernd und spürte die weiche Masse des Fetts, als er sich auf den Oberschenkel setzte. Der Freiherr musste vier Zentner wiegen.
»Ich erinnere mich so, als wär es gestern gewesen. Wie du in meine Kutsche kamst. Zu mir und den Damen, die du ja jetzt viel besser kennst. Und wie du die Unverfrorenheit besaßest, sie und mich zu bestehlen. Hier, ich hab deine Murmeln aufgehoben«, lächelte er und schüttete den Inhalt eines Beutels in die silberne Schüssel, die neben ihm stand.
Die schwarzen Holzmurmeln wirbelten in ihr herum, und Will las die Aufschrift, die jede von ihnen trug: Pirat .
»Und vorher, erinnerst du dich, hab ich Kartoffeln verkauft. Ich habe die letzten Pfennige aus dem zerlumpten Pack herausgequetscht. Ich hab die Väter der Kinder verkauft, damit sie in einem Krieg kämpfen müssen, von dem sie nicht wissen, wer ihn weswegen führt. So wie es auch der Vater des armen Barons gemacht hat. Aber das waren gleich mehrere Fehler.«
Er nahm die Perücke ab und kratzte sich den ergrauten Haarkranz.
»Arm ist nicht gleich dumm. Und arm und schlau ist nicht gleich schwach. Arm und schlau ist sehr gefährlich. Weißt du das, Will? Das hast du mir selbst bewiesen. Arm und schlau ist gleich hungrig, ehrgeizig und – zum Teufel noch mal – listig, gerissen und faustdick verschlagen. Ja, und da es so viele Arme gibt, können da auch viele Schlaue sein. Das heißt, viele Feinde. Unzufriedene Feinde. Träumende Feinde, die sich eine Welt wünschen, die anders ist.«
»Anders herum«, dachte Will laut.
»Ja, anders als die Welt, in der du und ich leben. Und jetzt kommt der Punkt. Ich meine, die Pointe.«
Eulenfels lachte, und dabei schlug sein Fett Wellen, vom Doppelkinn über den Walrossbauch bis hinunter in seine baumdicken Schenkel.
»Ich habe dazugelernt. Weißt du, mein Guter, und ich bin nicht arm. Nein, ich bin reich. Sehr reich und sehr schlau, und deshalb hab ich beschlossen, aus meinen Feinden Freunde zu machen.«
Er stupste Will gegen die Schulter und schaute ihn erwartungsvoll an.
»Ist das nicht eine geniale Idee. Und hast du eine Ahnung, wie sie funktioniert? Nun«, Eulenfels grinste, »ich mache sie glücklich. Das ist es doch, was eure hässlichen Begleiter aus dem Feuerberg wollen. Ich nehme ihnen ihren Neid, die Unzufriedenheit und den Hass. Ich teile, ja, ich gebe ab. Ich gebe ihnen gerade so viel, dass sie mehr als andere haben.«
Er schielte zu Talleyrand.
»Ich gebe ihnen den Acker, der sie von Kleidern und Schuhen träumen lässt und von Wintern ohne Hunger. Und ich sorge dafür, dass sie diese Kleider bekommen. Ich mache sie zufrieden. Ich mache sie satt.«
Der geheime Minister griff in eine Kiste und fingerte zwei Pralinen heraus. Eine für Will und eine für sich.
»Ich mache sie satt. Doch jetzt kommt das Wichtigste. Jetzt beschütze ich sie. Ich beschütze sie, Will, vor dem, was alles zerstört und was sich in jedem Mensch meldet, wenn er hat, was er will: dass er noch mehr will. Ja, Gier. Gier ist die große Gefahr. Und um sie zu besiegen, hilft mir die Macht, die ich habe. Sobald einer gierig wird, nehm ich ihm alles. Sobald einer einem anderen etwas antun will. Wenn einer einen anderen schädigt oder sich weigert, das zu tun, was ich von ihm verlange. Dann nehme ich ihm alles weg. Denn jeder soll schätzen, was er besitzt, und Angst davor haben, dass er es wieder verliert. Doch diese Angst ist keine Schwäche, nein, sie ist Kraft. Sie ist Dankbarkeit und Gehorsam. Das hat dir der Schwarze Baron erklärt. Nur wer gehorcht – das hast du begriffen? –, übernimmt auch Verantwortung und zeigt seine Liebe. So wie ein Sohn seinem Vater gehorcht.«
Er musterte Will und strich ihm über die Haare.
»Und wo Liebe ist, ist kein Verrat. Da gibt es nur Dankbarkeit. Da stopft dich keiner in eine Milbe und versenkt dich danach im dunklen Meer. Da bekommst du das Mädchen, das
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