Honor Harrington 10. Die Baumkatzen von Sphinx
versuchte.
»Sagen Sie mir die Namen!«, befahl Chou.
»Warum sollte ich?«, brachte Dover hervor.
Und dann starb er, zufrieden mit sich selbst.
Am Abend des gleichen Tages ging Jean Marrou zur Totenwache und erwies dem König ihren Respekt. Gleichzeitig versuchte sie die Unterströmungen in der Atmosphäre und den zwischenmenschlichen Beziehungen zu entschlüsseln. Unablässig wisperte das Implantat ihr Informationen zu, die sie zu einem Geflecht der Querverweise knüpfte: wer bei wem in Gunst stand, wer an Einfluss gewann und wer an Bedeutung verlor, ohne zu ahnen, in Ungnade gefallen zu sein.
Sehr vertraut war ihr dieses Spiel, und sie betrieb es, ohne ihm allzu bewusst Aufmerksamkeit zu schenken. Ihr ganzes Interesse galt der jungen Königin und ihrer Umgebung. Der neue Kandidat für die Regentschaft würde ein Mitglied der königlichen Familie sein. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, auch wenn manche Anwesenden durch ihre Spekulationen bezeugten, wie wenig versiert sie darin waren, solche Hinweise zu deuten.
Marrous Befriedigung schwand indessen umso mehr dahin, je länger sie sich mit der Gruppe um die Königin beschäftigte. Bei ihnen stimmte etwas nicht, das merkte sie genau. Justin Zyrr stand dichter bei der Königin, als es seine Gewohnheit war – mehr als drei Zentimeter näher als am vorherigen Abend.
Der Baumkater der Königin war nervös und wachsam – ebenfalls stärker als am Vorabend. Marrous Computer meldete, dass der ‘Kater die Menge ruhelos musterte, als suche er jemanden. Augenblicklich beschloss Marrou, sich nicht in die Schlange derer einzureihen, die langsam am Sarg vorbeidefilierten, denn dadurch käme sie der Königin und dem ‘Kater zu nahe.
Nachdem Jean Marrou bemerkt hatte, wie nervös der innere Kreis um die Königin war, blieb sie nicht mehr lange. Sie ließ sich lediglich noch bei verschiedenen Kollegen blicken und tauschte Banalitäten mit ihnen aus, dann schützte sie Müdigkeit vor und verließ die Totenwache. Niemand würde sich darüber wundern. Schon vor langer Zeit hatte sie gelernt, dass andere Menschen sie ihrer Blindheit wegen bemitleideten und ihr eine Gebrechlichkeit unterstellten, die ihr fremd war.
Auf Umwegen begab sie sich zum Treffpunkt mit ihren Mitverschwörern. Zwar würde sie zu früh ankommen, doch auf diese Weise konnte sie noch etwas trinken, sich wieder beruhigen und ihre Aufzeichnungen auf Indizien durchgehen, – Indizien, die ihre Prognose untermauerten, dass die nächste Kandidatin für die Regentschaft Caitrin Winton-Henke heiße.
Im Hotel öffnete sie die Türschlösser mit einer Reihe altmodischer, mechanischer Schlüssel. Computerschlösser waren zwar komplizierter und sicherer, aber sie zeichneten Protokolle auf. Sie mied den Lift und benutzte die Treppe. Währenddessen versuchte sie noch immer, ihre Gedanken zu ordnen. Im Hinterkopf überlegte sie, ob ein Imbiss nicht mehr anzuraten sei als ein Drink, und schob den Schlüssel in das letzte Schloss.
Als Marrou die Tür aufschob, hörte sie Stimmen. Schon als Kind hatte sie erkannt, dass es sich als profitabel erweisen konnte, ein Gespräch zu belauschen – Erwachsene vergaßen häufig, dass ein blindes Kind nicht notwendigerweise auch taub war. Leise schloss sie die Tür hinter sich und wartete im Eingang. Ihr ohnedies schon sehr scharfes Gehör verstärkte sie durch eine Schaltung ihres Computers.
Im gleichen Moment, als ihr Implantat ihr mitteilte, dass sie Marvin Seltman und Paula Gwinner höre, erkannte Marrou die Stimmen selber. Sie unterdrückte den leisen Impuls, sich zurückzuziehen und ein wenig vernehmlicher wieder einzutreten, denn sie hatte bemerkt, dass sie nicht etwa das Geplauder zweier Verliebter belauschte, sondern etwas weit Interessanteres.
»Dover ist nicht wie verabredet erschienen«, sagte Seltman gerade. »Ich habe einige Nachforschungen angestellt und fürchte, dass er in Ungnade gefallen ist. Vielleicht ist er sogar tot.«
»Glück muss der Mensch haben«, entgegnete Gwinner.
Als sie mit dem Eis in ihrem Glas klirrte, grinste Marrou matt. Wann immer Gwinner nervös war, musste sie mit etwas spielen. Ihre Stimme hingegen blieb kühl.
»Dann können wir unsere Hoffnung wohl aufgeben, dass es ihm gelingt, Zyrr zu ersetzen.«
»Das stimmt«, sagte Seltman, »aber es war ohnehin nie mehr als eine sehr entfernte Möglichkeit. Dover hat seinen Zweck erfüllt. Vielleicht haben Sie Recht, und es ist für uns am besten, dass er aus dem Weg ist, bevor er
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