Honor Harrington 6. Ehre unter Feinden
Caslet ging voran auf die Brücke der Vaubon .
»Alles in Ordnung, Bürgerin Eins-O?« wandte sich Jourdain an MacMurtree.
»Jawohl, Sir«, antwortete sie zackig. »Bürgerin Haines hat das Kurierboot bereits auf den Weg geschickt.«
»Ausgezeichnet!« Jourdain rieb sich tatsächlich zufrieden die Hände. »Dann sollten wir wohl anfangen, nach diesen Leuten Ausschau zu halten, meinen Sie nicht auch, Bürger Commander?«
»Das meine ich, Sir«, antwortete Caslet lächelnd. Als Jourdain damals an Bord kam, hätte Caslet fünf Jahresbezüge gewettet, daß der Volkskommissar nichts anderes sein würde als lästig. Mittlerweile war er sich nur zu gut bewußt, wie glücklich er sich schätzen konnte, und einen Augenblick lang zeigte dieses Lächeln darum echte Wärme. Dann riß er sich zusammen und blickte den Astrogator an. »Also gut, Simon. Es geht los.«
Harold Sukowski ließ sich in den Stuhl an Chris Hurlmans Bett sinken und lächelte sie an. Mittlerweile fiel ihm das leichter, denn sie sah nicht mehr aus wie ein gefangenes wildes Tier. Dr. Jankowski hatte sich intensiv um Chris gekümmert und beschlossen, jegliche psychologische Therapie auf später zu verschieben und zunächst ihre körperlichen Wunden zu behandeln. Daß Jankowski eine Frau war, hatte sicherlich eine erhebliche Rolle gespielt, aber wirklich wichtig war nach Sukowskis Ansicht, daß die Schiffsärztin Chris ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln vermochte. Zum erstenmal seit der Kaperung der Bonaventure hatte Chris sich geborgen fühlen können, unter Menschen, die sie und ihren Skipper nicht bedrohten und sogar ihr Bestes wollten.
Die ersten beiden Tage hatten aus nichts als Warten bestanden. Sukowski hatte fast jede wache Minute an Chris’ Bett gesessen, die nur dagelegen und an die Decke gestarrt hatte. Die hysterischen Anfälle hatten am dritten Tag begonnen und waren gnädigerweise rasch vorübergegangen. Chris hatte mittlerweile gute und schlechte Tage, heute schien ein guter zu sein: Sie rang sich dazu durch, Sukowskis Lächeln zu erwidern. Das Lächeln war nur ein Schatten ihres früheren, ansteckenden Strahlens, und Sukowski schmerzte der Gedanke, wieviel Kraft es Chris kostete, um wenigstens diese schiefe Karikatur zustandezubringen, aber er tätschelte ihr nur sanft die Hand.
»Sieht so aus, als geben sie sich Mühe mit dir«, meinte er in gespielt leichtfertigem Ton. Chris’ Lächeln wankte, aber es verschwand nicht, und sie räusperte sich.
»Ja«, antwortete sie rauh. Ihre Stimme klang rostig und gebrochen, aber Sukowskis Herzschlag beschleunigte sich, als er sie vernahm, denn Chris hatte gerade ihr erstes Wort seit ihrem alptraumhaften Aufenthalt im Piratenschiff gesprochen. »Vielleicht hätte ich auf deine Befehle hören sollen«, schnarrte Chris, und eine einzelne Träne rann ihr die Wange hinab.
»Das hättest du«, stimmte Sukowski zu, streckte die Hand aus und wischte ihr mit einem Finger sanft die Träne ab, »aber wenn du gehorcht hättest, wäre ich tot. Unter den gegebenen Umständen habe ich mich daher entschlossen, dich nicht wegen Meuterei anzuklagen.«
»Na, da danke ich aber«, brachte sie hervor, und ihre Schultern bebten unter einem Lachen, das nicht weit von einem Schluchzen entfernt lag. Sie schloß die Augen und leckte sich die Lippen. »Man bringt uns in ein Lager?«
»Nichts da. Sie sagen, sie lassen uns sobald wie möglich nach Hause gehen.« Chris drehte auf dem Kissen den Kopf und riß ungläubig die Augen auf. Sukowski zuckte mit den Schultern. »Keiner gibt es zu, aber sie müssen als Handelsstörer hier draußen sein. Deshalb sollten sie eine Menge Handelsschiffer als Kriegsgefangene haben. Früher oder später müssen sie zugeben, Gefangene genommen zu haben, und die Konventionen für den Austausch von zivilen Gefangenen sind recht unkompliziert.«
»Solange sie sich die Mühe machen, Gefangene zu nehmen«, brummte Chris.
Sukowski schüttelte den Kopf. »Ich bin auch nicht begeisterter über die Regierung der Havies als alle anderen auch, aber die Besatzung dieses Schiffes macht auf mich einen anständigen Eindruck. Die Leute haben sich sehr gut um uns gekümmert« – er meinte »dich«, und Chris nickte –, »und anscheinend sind sie ebenso entschlossen, die Bastarde zu erwischen, wie es einer unserer Skipper nur sein könnte. Ich habe Gelegenheit bekommen, mir eine Videoaufzeichnung von einem anderen Schiff anzusehen, das unsere Piraten überfallen hatten, und deshalb glaube ich zu
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