Honor Harrington 6. Ehre unter Feinden
Entfernungen sind Gravwellen eher schmal. Das völlig unsystematische Geflecht der Hyperwellen bedingte nun leider, daß ein Sternenschiff auf den allermeisten Reisen wenigstens einen dieser Risse durchqueren mußte; die Gravwellen erwiesen der Menschheit nicht den Gefallen, dort zur Stelle zu sein, wo man sie brauchte. Eine Gravwelle besteht aus gebündelter Gravitationsenergie, die um viele Größenordnungen stärker ist als alles, was Menschen generieren konnten, und weist ihre eigene individuelle Frequenz und Flußdichte auf. Gerät ein Schiff mit seinem Impellerkeil in eine Gravwelle, führt die Interferenz auf der Stelle zu einer Energieentladung, die mehr als ausreicht, um jedes Schiff zu vernichten.
Vor der Erfindung des Warshawski-Segels und des Detektors für Schwerkraftanomalien hatten daher die Passagiere der interstellaren Kolonistenschiffe im Kältetiefschlaf gelegen, während das Schiff auf jahrhundertelanger Reise die Abgründe zwischen den Sternen mit Unterlichtgeschwindigkeit durchquerte. Gleichzeitig benutzten Vermessungsschiffe mit todesmutigen Spezialisten an Bord den Hyperraum, um die Galaxis zu erforschen, und die Verlustziffern unter diesen Draufgängern war gewaltig. Freiwillige für die Vermessungsschiffe fanden sich immer – Menschen, die vom Fernweh, vom Nervenkitzel und den unfaßbar hohen Gehältern angezogen wurden –, aber wer mit seiner Familie zu den Sternen aufbrach, der vertraute auf Normalraum und Kälteschlaf.
Im Jahre 1273 P. D. stellte die Hyperphysikerin Adrienne Warshawski das Versuchsschiff Fleetwing fertig. Die Fleetwing besaß grundlegend umgestaltete und weitaus stärkere Antriebsemitter als bis dato bekannt, welche die Bezeichnung »Alpha-Emitter« erhielten. Mit diesen Alpha-Emittern erzeugte die Fleetwing die ersten Warshawski-Segel der Menschheitsgeschichte. Grob gesagt handelte es sich dabei um nichts anderes als die beiden Bänder verzerrter Raumzeit, aus denen auch ein normaler Impellerkeil bestand, aber die Fleetwing projizierte sie nicht als Keil parallel zur Schiffslängsachse, sondern in Form zweier gewaltiger, senkrecht dazu orientierter Scheiben. Was Adrienne Warshawski mit diesen »Segeln« anzustellen vermochte, erschien ihren Zeitgenossen wie Zauberei: Die Scheiben aus Gravitationsenergie ließen sich auf die Phase einer natürlichen Gravwelle abstimmen und stabilisierten die Fleetwing relativ zu dieser Gravwelle. Justierte man die Stärke und Frequenz der Segel in geeigneter Weise, erzeugten sie einen ›Auffangeffekt‹, der dem Schiff gestattete, im Verein mit dem eigenen Trägheitskompensator die Welle zu benutzen, um einen außergewöhnlich hohen Beschleunigungsfaktor zu erzielen. Als zusätzlichen Bonus entstanden an der Grenzfläche zwischen Segel und Welle Strudel auf außerordentlich hohen Energieniveaus, die von dem reisenden Schiff angezapft werden konnten, so daß während des Aufenthalts in der Gravwelle keinerlei Reaktormasse verbraucht wurde.
Es bedarf wohl keiner besonderen Erwähnung, daß sich die interstellare Raumfahrt durch das Warshawski-Segel grundlegend änderte. Anstatt die Gravwellen zu meiden wie der Teufel das Weihwasser, begannen die Kommandanten und Kapitäne militärischer wie ziviler Schiffe gleichermaßen, nach ihnen zu suchen. Unterstützt wurden sie dabei durch den Gravitationsdetektor, den Adrienne Warshawski schon vor dem Segel erfunden hatte (und den man ihr zu Ehren noch immer als »Warshawskis« bezeichnet). Plötzlich waren die Gravwellen keine Todesfallen mehr, sondern das effektivste Transportmedium, das dem Menschen bekannt war. Mit Hilfe der Impeller konnte ein Schiff die gleiche Dauergeschwindigkeit erzielen, aber die zahlreichen Ausweichmanöver um bekannte Gravwellen herum vergrößerte dabei die Reisezeit beträchtlich, und die Folgen eines unerwarteten Zusammenstoßes mit einer Welle waren nach wie vor tödlich. Indem ein Sternenschiff jedoch auf den Gravwellen ritt , vermochte es höher zu beschleunigen, senkte seine Betriebskosten und umging die Gefahr, unbeabsichtigt mit einer Welle zusammenzustoßen.
Auf einer ausgedehnten Reise war es nun so gut wie unumgänglich, daß ein Sternenschiff wenigstens einmal (meist öfter) die Gravwelle wechselte, und diese Wechsel erfolgten unter Impellerantrieb – mit höchster Vorsicht.
Ganz besonders vorsichtig aber im Selker-Riß.
Die wichtigen interstellaren Handelswege umsteuerten die breiteren Risse. Einige Routen wurden dadurch ein wenig länger, aber
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