Hoppe
Bedauern von Ms Ayrton, unverrichteter Dinge ab. Felicitas ist nicht aufgetaucht, um nach neuer Post zu fragen, die schöne Helena bleibt auf ihren Briefmarken (»die mit dem Schiffsmotiv«) sitzen. Und Hoppes Erzählung gerät ins Schwimmen, sie ist offensichtlich nicht in der Lage, die Geschichte überzeugend zu Ende zu bringen. Die Spur des großen Bruders aus Hameln verliert sich in einem schlecht beleuchteten Hinterzimmer, genau wie Madame und Monsieur Paganel, wie Dick Floater und Friedrich Wilhelm Ludwig Leichhardt, »von dem man bis heute nichts gefunden hat als einen Baum in der Wüste, signiert mit dem Buchstaben
L
«.
Zurück vom Hoppetext zu den Fakten. Tatsache ist, dass Felicitas und ihr Vater insgesamt drei Wochen bei
Grant’s Children
logierten, laut Eintragung im Gästebuch vom 21 . 12 . 1974 bis zum 12 . 1 . 1975 , für die Karl Hoppe am Nachmittag des 13 . 1 . nachweislich die Rechnung beglich. Von einem Auf und Davon in der Weihnachtsnacht kann also keine Rede sein. Gleichfalls verbürgt ist, dass Hoppe, wie in
Buch L
angedeutet, regelmäßig in die Pension zurückkehrte, um nach Post zu fragen. Denn die schöne Helena aus Hoppes Erzählung, die allerdings nicht Helena, sondern Lucy (Ayrton) heißt, betreibt die Pension bis heute (die Tarife für Zweibettzimmer mit Hafenblick sind inzwischen allerdings erheblich gestiegen), ist mittlerweile hoch in den Siebzigern, überraschend lebhaft und auskunftsfreudig und erinnert sich noch sehr genau an jenen »stillen Vater«, der zusammen mit seiner Tochter für mehrere Wochen bei ihr zu Gast war, nicht zuletzt deshalb, weil Felicitas nach dem Umzug der Hoppes in eine eigene Wohnung, »niemals aufgehört hat, mein Gast zu sein. Sie kam immer wieder, anfangs mindestens einmal die Woche, um nach Post zu fragen, später seltener, aber immer noch regelmäßig, bis zum Schluss hat sie mir die Treue gehalten«, berichtet die Wirtin.
»Warum ich die schöne Helena liebte«, schreibt Felicitas in dem bereits oben erwähnten Entwurf zu ihrer ersten Autobiographie, »ist schnell gesagt. Weil sie wusste, dass ein Familientisch rund sein muss, damit es weder Vorzug noch Nachteil gibt.« Die Suche nach einem runden Tisch hat Felicitas niemals aufgegeben. Die schöne Helena wird zu ihrer australischen Phyllis, einer weiteren Gastgeberkönigin in Hoppes Sammlung, der sie in ihrem späteren Werk ein Denkmal setzt, als sie in
Paradiese, Übersee
»Frau Conzemius« erfindet, jene Wirtin, die unter den Achseln nach frischem Brot riecht und deren Haar niemals grau wird.
Mit Frau Conzemius erschafft Hoppe ihren Traum von der ewigen Wirtin, einen Typus, der ihren Wunsch nach einer globalen Heimat verkörpert, nach jenem Ort, an dem man immer zu Hause ist. Das geht weit über das idealtypische Familienidyll ihrer Hamelner Wunschfamilie hinaus. In ihrem 2004 erschienenen Essay
Wir sind nur Gast auf Erden (The eternal Landlady)
führt Hoppe selbst aus, dass bei Frau Conzemius eine Art von Zuneigung herrscht, die nicht an Blutsverwandtschaft gebunden ist: »Nirgends als bei Frau Conzemius ist man wirklich frei, weil hier jeder zu Hause sein darf, ohne Tadel und Furcht, unabhängig davon, woher er kommt, was er ist, wohin er geht, was er tut, ob er bleibt oder jemals zurückkommt.« Frau Conzemius’ »Echternachzimmer« in einem »Land ohne Meer« (gemeint ist vermutlich Luxemburg) ist in Wahrheit jenes Zimmer mit Hafenblick in Downunder, bei
Grant’s Children
, »der Schatten dessen«, schreibt Hoppe, »was man das Paradies nennen könnte«.
Was die echte Ms Ayrton betrifft, so deckt sich ihre Beschreibung des jugendlichen Gastes weitgehend mit Felicitas’ Selbstbeschreibung aus dem oben zitierten
Buch L
wie auch mit den Notizen Karls: »Sie war«, berichtet Ms Ayrton bei einer Tasse Kaffee, »ziemlich zurückweisend, in der ersten Woche sah ich sie nie, erst in der zweiten Woche kam sie gelegentlich runter, setzte sich an den hinteren Tisch, aß zwei Scheiben Toast, Eier lehnte sie ab. Wenn ich sie fragte, gut geschlafen?, sah sie mich an, sagte nichts. Nach dem Frühstück verschwand sie aufs Zimmer, was sie da machte, weiß ich nicht, hat wohl Briefe geschrieben. Wie gesagt, sie war eine manische Schreiberin, schickte die Briefe auch ab, fast jeden Tag einen, was natürlich ins Geld ging, die gingen ja alle nach Übersee, eine Hälfte nach Deutschland, die andere Hälfte nach Kanada, das Porto hat ihr Vater bezahlt, der übrigens selber Briefe schrieb,
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