Hornblower 07 - Unter wehender Flagge
der Schussweite. »Pullen sollen die Kerle, Brown!« brüllte Hornblower. Er konnte erraten, was sich weiter ereignen würde. Der Kutter lief weniger als eine Meile in der Stunde, und so blieb man den ganzen Tag über in Gefahr, sofern nicht etwas Wind aufkam. So sehr er aber die Augen anstrengte, weder auf der glatten Oberfläche der See noch am strahlendblauen Morgenhimmel bemerkte er Anzeichen einer aufkommenden Brise. Aber jeden Augenblick konnten drüben Boote ablegen, die viel schneller vom Fleck zu kommen vermochten, als es die wenigen schweren Ruder der› Hexe von Endor ‹fertigbrachten. In solchem Boot konnten bis zu fünfzig Bewaffnete stecken, und möglicherweise verfügten sie sogar über ein Buggeschütz. Drei Männer, denen die zweifelhafte Hilfe einer Handvoll Sträflinge zur Verfügung stand, durften nicht hoffen, erfolgreichen Widerstand leisten zu können.
»Doch! Bei Gott!« sagte Hornblower halblaut. Während er in lebhafte Bewegung geriet, sah er die Boote bereits, die als winzige Flecke auf der ölglatten Fläche erschienen. Die Besatzung musste sofort nach dem Empfang des Winkspruchs alarmiert worden sein.
»Pull!« schrie Brown.
Die langen Riemen knirschten in den Dollen, und der Kutter kroch vorwärts.
Hornblower hatte den achtersten der an Backbord stehenden Sechspfünder klargemacht. Kugeln lagen in einem unterhalb der Reling angebrachten Kasten, aber Pulver schien nicht vorhanden zu sein.
»Brown, lassen sie die Kerle schalten und achten Sie auf den Lotsen.«
»Aye, aye, Sir.«
Er streckte seine riesige Pranke aus und nahm den Franzosen beim Kragen, indessen Hornblower unter Deck verschwand.
Einer der dort liegenden Gefangenen hatte sich bis zum Fuß der kleinen Treppe gewälzt. In seiner Hast trat Hornblower auf ihn.
Fluchend zog er den Mann beiseite. Wie er erwartet hatte, ging es durch ein Luk in die darunter befindliche Last. Hornblower riss den Deckel auf und kroch hindurch. Hier war es fast vollkommen finster, denn die einzige Beleuchtung kam durch das Kajütenskylight. Er stolperte zwischen den aufgeschichteten Vorräten herum. Dann aber nahm er sich zusammen. Mochte auch höchste Eile geboten sein, so konnte planlose Überstürzung doch niemals gut tun. Er wartete ein Weilchen, bis sich die Augen an das Halbdunkel gewöhnten. Noch immer ertönten von droben Browns dröhnende Kommandostimme und das Knirschen der schweren Riemen, die sich in ihren Dollen drehten. Jetzt sah Hornblower in der vor ihm befindlichen Wand das, was er suchte: eine niedrige Tür, in die eine Fensterscheibe eingelassen war. Dies war offenbar der Zugang zur Pulverkammer, denn der Feuerwerker pflegte dort drinnen beim Schein einer im Vorraum brennenden Laterne zu arbeiten.
Er räumte die Dinge fort, die ihm im Weg lagen. In der stickigen Luft brach ihm der Schweiß aus allen Poren. Endlich gelang es ihm, die Tür aufzureißen. Gebückt umhertastend, fanden seine Hände vier größere Pulverfässer. Auch glaubte er Schießpulver unter seinen Sohlen knirschen zu fühlen. Jeden Augenblick konnte ein Reibungsfunke den ganzen Kutter in tausend Fetzen reißen. Dieses schlampige Umgehen mit Explosivstoffen sah den Franzosen mal wieder recht ähnlich.
Einen Seufzer der Erleichterung stieß er aus, als seine Finger über die Umrisse fertiger Papierkartuschen glitten. Wohl hatte er von vornherein gehofft, sie zu finden, doch wäre es auch möglich gewesen, daß sich keine fertige Munition an Bord befand, und die Aussicht, mit losem Schwarzpulver arbeiten zu müssen, war alles andere als verlockend gewesen. Er belud sich mit Kartuschen und trat den Rückweg an, tief aufatmend, als er wieder in den hellen Sonnenschein gelangte.
Die Boote waren inzwischen merklich näher gekommen. Aus dunklen Flecken hatten sie sich zu Wasserkäfern entwickelt, die auf die Witch of Endor zukrochen. Drei waren es. In dem Bestreben, den Gegner möglichst bald einzuholen, hatten sie sich bereits etwas auseinandergezogen. Hornblower legte seine Kartuschen an Deck nieder. Sein Herz pochte fühlbar vor Anstrengung und Erregung, und jeder Versuch, sich wieder zu beruhigen, schien erfolglos zu sein. Es bestand ein Unterschied darin, sachgemäße Befehle zu erteilen oder den Erfolg auf die Geschicklichkeit der eigenen Hände und die Schärfe der Augen zu begründen.
Seine Gefühle ähnelten ein wenig jenen, die er dann empfand, wenn er ein Glas Wein zuviel getrunken hatte; er wusste sehr wohl, was er tun musste, aber die Glieder
Weitere Kostenlose Bücher