Hornblower 07 - Unter wehender Flagge
vorwärtsgekommen. Das Festland war im leichten Dunst verschwunden, und Noirmoutier lag bereits weit achteraus. Aber immer noch zeigte sich keine Spur von Wind.
Demnach schwebten sie nach wie vor in Gefahr. Wurden sie hier von der Dunkelheit überrascht, wo sie noch von Booten erreicht werden konnten, so würde ein nächtlicher Angriff wohl ein ganz anderes Ergebnis zeitigen. Jeder zurückgelegte Meter war von Wichtigkeit, und die Leute mussten weiterhin an ihren Riemen schuften; nötigenfalls die Nacht hindurch.
Hornblower verspürte überall Schmerzen im Körper. Den ganzen Vormittag hindurch hatte er den Sechspfünder bedient, und seit dem vorigen Abend war es ihm nicht möglich gewesen, zu schlafen. Das galt allerdings auch von Bush und Brown. Er merkte, daß er geradezu stank nach Schweiß und Pulverqualm, und die Haut juckte unerträglich dort, wo ihr Pulverrückstände anhafteten. Er sehnte sich nach Ruhe und trat doch fast unwillkürlich wieder an das Geschütz, um es seefest zu zurren.
Die nicht verfeuerten Kartuschen legte er sorgfältig beiseite, und dann steckte er die Pistolen zu sich.
15. Kapitel
Erst gegen Mitternacht strich flüsternd eine ganz schwache Brise über das von dunstigen Schleiern überzogene Wasser.
Zunächst holte nur das große Gaffelsegel über, und die Takelage begann zu klappern, aber dann straffte sich die Leinwand, und Hornblower konnte die erschöpften Gefangenen wegtreten lassen. Allerdings machte der Kutter nur so wenig Fahrt, daß es kaum so etwas wie eine Bugwelle gab, doch kam man schneller vom Fleck als unter dem Druck der Riemen. Es wehte aus Osten. Beim Bedienen der Großschot fühlte Hornblower fast gar keinen Druck, aber trotzdem glitt der schnittige Kutter unter seiner großen Segelfläche wie ein Traumgebilde über die fast unsichtbare See.
Wirklich geschah alles mehr oder weniger wie im Traum, denn Hornblower war furchtbar übermüdet. Die Sträflinge und die Kriegsgefangenen durften sich zum Schlafen niederlegen.
Nachdem sie innerhalb der letzten zwanzig Stunden zehn an den ungeschlachten Riemen zugebracht hatten, drohte vorderhand von ihrer Seite aus keine Gefahr. Mehrere von ihnen hatten blutende Hände. Für ihn, Bush und Brown aber war an Schlaf nicht zu denken. Fremd klang ihm die eigene Stimme im Ohr, als er seine Befehle erteilte. Die Hände, mit denen er die Enden bediente, schienen nicht seine eigenen zu sein. Ihm war, als bestehe keine rechte Verbindung mehr zwischen seinem Hirn, mit dem er zu denken suchte, und dem Körper, der ihm gehorchen sollte.
Irgendwo im Nordwesten stand die Flotte, die unermüdlich alle Zufahrtsstrassen von Brest überwachte. Hornblower hatte den Kutter auf nordwestlichen Kurs gelegt. Der achterliche Wind konnte dabei gut ausgenutzt werden. Fand er die Kanalflotte nicht, so wollte er, der großen Insel Ushant ausweichend, die Witch of Endor nach England steuern. Das alles wusste er, aber gerade diese Umstände machten die Gegenwart noch traumhafter. Die Erinnerung an Marie de Graceys Boudoir und an den Kampf auf Leben und Tod, den er in der hochgehenden Loire hatte bestehen müssen, kamen ihm wirklicher vor als dies kleine feste Schiff, auf dessen Deck er stand und dessen Großschot er wahrnahm. Wenn er jetzt einen Kurs festlegte, den Bush steuern sollte, so empfand er das selbst wie ein kindliches Spiel. Wohl hielt er sich vor, daß diese Erscheinung nicht neu sei, daß er schon früher imstande gewesen war, eine Nacht ohne Schlaf auszukommen, daß ihm jedoch die Phantasie allerlei Streiche zu spielen begann, wenn er während einer zweiten Nacht keinerlei Ruhe fand, aber diese Erkenntnis vermochte nicht seine Gedanken zu klären.
Er kehrte zu Bush und zum Ruder zurück, als das schwache Kompasslicht das Gesicht des Ersten Offiziers der Sutherland in der Dunkelheit gerade noch sichtbar machte. Hornblower war sogar bereit, sich in ein kurzes Gespräch einzulassen, um dadurch wieder in die Wirklichkeit zurückkehren zu können.
»Müde, Mr. Bush?« fragte er.
»Nein, Sir; gewiss nicht. Wie aber ist es mit Ihnen, Sir?«
Bush hatte mit seinem Kommandanten so manchen Kampf bestanden, daß er eine übertriebene Vorstellung von dessen Körperkräften besaß.
»Ganz gut; danke.«
»Wenn es so weitergeht, werden wir schon morgen früh die Flotte sichten, Sir«, sagte Bush, als er erkannte, daß sich hier eine der seltenen Gelegenheiten zu einer kleinen Plauderei mit dem Kapitän bot.
»Hoffentlich«, nickte
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