Horowitz, Anthony - Die fuenf Tore 5 - Zeitentod (Das Finale - Teil 1)
geflogen? Als Jonas nach Neapel aufgebrochen war, hatte er das Gefühl gehabt, alles unter Kontrolle zu haben, aber jetzt fühlte er sich, als wäre ihm alles entglitten.
Der Pilot hatte seine On-Board Checks beendet und dimmte das Kabinenlicht. Was natürlich nicht nötig war, sondern einfach alte Gewohnheit. Er brauchte nicht auf eine Starterlaubnis zu warten, denn dieses Flugzeug war das einzige, das von Neapel abflog. Und nach heute würde der Flughafen von Neapel ohnehin nicht mehr existieren. Jonas hörte, wie die Motoren aufdröhnten, und einen Moment später rasten sie die Startbahn hinunter. Das Fahrgestell rumpelte über die Schlaglöcher. Es gab einen Moment, in dem Jonas sich fragte, ob sie wohl abheben würden. Der Rauch und die Flammen schienen überall zu sein und sie von allen Seiten einzukesseln. Bildete er sich das nur ein oder war die Temperatur in der Kabine tatsächlich gestiegen? Sie wurden lebendig gebraten! Ihm stockte der Atem und er klammerte sich mit seiner guten Hand am Sitz fest. Unwillkürlich hatte er die Augen zugekniffen. Er hielt sein Whiskyglas so fest gepackt, dass er bereits damit rechnete, dass es in seiner verletzten Hand zerplatzen würde.
Aber dann waren sie in der Luft. Er konnte fühlen, wie das Fahrwerk eingezogen wurde, und lehnte sich in seinem Sitz zurück, als sie in den Steigflug gingen. Es gab noch zwei weitere Explosionen. Das Flugzeug wurde beinahe in Stücke gerissen, so wild schaukelte es von einer Seite zur anderen, knarrte und krachte. Einige der Staufächer flogen auf. Bücher und DVDs prasselten heraus.
„Hast du das gesehen?“, jubelte Scott.
Jonas öffnete die Augen. Alles war schwarz und rot. Aschewolken umfingen sie wie riesige Fäuste. Der ganze Himmel schien in Flammen zu stehen. Jonas stöhnte leise vor sich hin. Am liebsten hätte er seine Angst laut herausgeschrien.
Aber sie stürzten nicht ab. Neunzig Sekunden später waren sie über dem wabernden Rauch, den im Kreis herumwirbelnden Wolken – dem widerlichen Auge des Sturms. Das Schlimmste des Ausbruchs lag hinter ihnen. Vor sich konnte Jonas sogar schon blauen Himmel sehen. Er schaute aus dem Fenster und stellte sich die Stadt vor, die sie gerade verlassen hatten. Er fragte sich, wie viele Menschen wohl in dieser Nacht sterben würden. Zehntausend? Hunderttausend? In einer Größenordnung wie dieser war es eigentlich egal. Da sah man sie nicht mehr als menschliche Wesen. Mit genügend Nullen am Ende waren es einfach nur noch Ameisen.
Der Pilot flog eine sanfte Kurve. Die Kabinenbeleuchtung ging wieder an. Die Boeing 747 war auf ihrer Reise nach Süden.
Aus dem Krater quoll schwarzer Rauch, als wäre es Öl. Er breitete sich immer weiter aus und verschluckte das Licht. Asche regnete herab, so dick wie Schneeflocken. Es war, als würde die Luft abgesaugt, und das bisschen, das zum Atmen blieb, stank nach Schwefel. Die Flammenwalze rollte immer weiter durch die Stadt. Die Sonne war verschwunden und die ganze Welt in einen roten Schein getaucht.
Irgendwie hatten es Giovanni und Pedro bis zum Hafen geschafft und sich an den Menschen vorbeigedrängt, die sich benahmen, als hätten sie den Verstand verloren, und die schreiend in alle Richtungen rannten, aufeinander einschlugen und blindlings von einer Straßenecke zur anderen liefen. Ein paar hatten aufgegeben, waren auf der Straße auf die Knie gesunken und beteten um Erlösung, während andere über sie hinwegtrampelten. Kinder, die ihre Eltern verloren hatten, liefen hilflos herum. Babys waren in ihren Kinderwagen einfach stehen gelassen worden.
Ganze Stadtviertel gingen in Flammen auf. Der Vesuv schoss auf sie, wie bei einem monströsen Spiel auf dem Jahrmarkt, nur dass die Geschosse in diesem Fall riesige Feuerbälle waren, die in rascher Folge auf die Stadt niedergingen. Auch das Castel Nuovo war getroffen worden. Einer der Türme war zerstört und der Rest des Gebäudes stand in Flammen, die aus den Fenstern züngelten. Weiter nördlich war der Duomo, die große Kirche aus dem dreizehnten Jahrhundert, fast verschwunden. Mehr als tausend Menschen, die bis zuletzt geglaubt hatten, dass Gott sie retten würde, hatten in ihr Zuflucht gesucht, kurz bevor sie von einem der glühenden Geschosse des Vulkans getroffen worden war. Jetzt strömten sie wieder heraus, umgeben von Qualm und Trümmern.
Der Hafen war ein Albtraum aus Feuer und Rauch, erstickenden Gasen und wild aufpeitschendem Wasser. Die meisten fahrbereiten Boote waren schon
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