Horowitz, Anthony - Die fuenf Tore 5 - Zeitentod (Das Finale - Teil 1)
gefahren, mit glasigem Blick, das Lenkrad fest umklammert. Scarlett hatte nahezu pausenlos auf ihn eingeredet, aber nicht, weil sie etwas zu sagen hatte, sondern nur, damit er nicht einschlief. Es hatte fast nichts zu sehen gegeben, nichts, was auf der öden Strecke für etwas Abwechslung gesorgt hätte. Gelegentlich tauchte am Straßenrand ein ausgebrannter Bus oder ein Panzerfahrzeug auf und diese Höhepunkte unterbrachen die Eintönigkeit für einen Moment. Auf ihrer Fahrt nach Süden kamen sie an ein paar Dörfern, Hochspannungsleitungen, verlassenen Grenzposten mit verdrehtem Stacheldraht und zerfetzten Flaggen vorbei … aber sie entdeckten kein menschliches Wesen. Der Sand wehte immer noch und vielleicht verdeckte er die Wahrheit. Vielleicht hatten die Bewohner von Eilat in Israel oder Aqaba in Jordanien gehört, wie sie vorbeifuhren, und waren losgerannt, um sie aufzuhalten. Aber wenn das wirklich der Fall war, waren sie zu langsam gewesen. Richard hatte jedes Mal Vollgas gegeben und sie waren durch die wenigen Dörfer hindurchgerast.
Der Himmel war grau und der Sand von einem schmutzigen Orange, als sie Remy aus dem Auto zerrten und auf den Boden legten. Richard kletterte auf den Land Cruiser und zog einen Spaten aus den Vorräten und Ersatzteilen, die auf dem Dach festgezurrt waren. Scarlett erkannte, dass er tatsächlich ein Grab ausheben wollte, und fühlte sich schuldig, denn wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie sich die Mühe sparen können. Remy war tot. Für ihn machte es keinen Unterschied mehr.
„Richard, lass mich das machen“, sagte sie.
Richard schüttelte den Kopf. „Nein, ist schon in Ordnung. Ich kann Bewegung brauchen. Ich habe längst den Überblick verloren, wie viele Stunden ich in diesem Wagen gesessen habe.“
„Bis Dubai ist es höchstens noch eine Stunde.“
„Ich weiß. Wenn er ein bisschen länger durchgehalten hätte, hätten wir ihn in ein Krankenhaus bringen können.“
„Falls es dort Krankenhäuser gibt …“
„Stimmt. Sieh dir das mal an …“ Er hielt ihr etwas hin. Es war eine dicke Brieftasche aus hellbraunem Leder.
„Was ist das?“
„Es ist die von Remy. Sie war in seiner Tasche.“
Scarlett öffnete die Brieftasche. In einem der Fächer steckte ein Bündel Banknoten: amerikanische Hundertdollarscheine, sorgfältig zusammengelegt. Scarlett fuhr mit dem Daumen über die Scheine. „Wie viel ist das?“, fragte sie.
„Es sind fünfzig Stück. Fünftausend Dollar.“ Richard packte den Spaten mit beiden Händen. „Ich schätze, das hat er sich für schlechte Zeiten aufgehoben.“
„Viel schlechtere Zeiten wird er wohl nicht mehr erleben.“
„Aber komisch ist es schon. Da sind keine Fotos. Keine Bilder von einer Frau oder Kindern. Nichts Persönliches. Nur ein Packen Scheine. Wir werden nie etwas über ihn erfahren.“
„Er hat versucht, uns zu helfen. Mehr müssen wir nicht wissen.“ Scarlett klappte die Brieftasche zu. „Das Geld kann uns nützlich sein. Vielleicht reicht es für Flugtickets, die uns von hier wegbringen.“
Der Sand war locker und Richard brauchte nur etwa eine halbe Stunde, um eine Grube von rund einem Meter Tiefe auszuheben. Das musste reichen. Er ließ den Spaten fallen, dann zogen er und Scarlett Remy mit vereinten Kräften hinein.
Als sie die Knöchel des Toten packte, hatte Scarlett einen dieser Momente, in denen sie das Gefühl hatte, sich selbst zu beobachten, und konnte nicht fassen, was sie da sah. Was Mrs Ridgewell wohl sagen würde, wenn sie jetzt hier wäre? Irgendwie bezweifelte sie, dass die Leiterin ihrer alten Schule in Dulwich irgendwelche Tipps zum Begraben eines Franzosen in der arabischen Wüste gehabt hätte.
Halt die Füße zusammen, Scarlett. Und versuch, nicht noch mehr Blut an deine Hände zu bekommen. Du hast schon genug davon an dir …
War ihr das alles wirklich passiert? Wie hatte ihr Leben so aus der Bahn geraten können?
Die Leiche rutschte ins Grab. Bevor Richard auch die restliche Arbeit machen konnte, schnappte sich Scarlett den Spaten und begann, das Loch zuzuschaufeln. Richard nahm sich den Wasserkanister und trank. Sein Gesicht war mit Schweiß und Staub bedeckt. Wenigstens hatten sie noch Wasser. Sie waren sorgfältig damit umgegangen und hatten es auf ihrer Fahrt streng eingeteilt. Sie wussten ja nicht, wie es in Dubai mit den Wasservorräten aussah. Keiner von ihnen sprach es aus, obwohl sie es insgeheim dachten. Remy hatte in den letzten drei Tagen mehr Wasser verbraucht
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