Horowitz, Anthony - Die fuenf Tore 5 - Zeitentod (Das Finale - Teil 1)
einfach.
„Stehen bleiben!“
Ich hörte den Ruf, packte Jamie und zerrte ihn hinter den dicken Stamm einer Rosskastanie. Wir hatten die Außenwache erreicht und direkt vor uns stand ein zwei Meter hoher Wachturm. Er war aus Holz gezimmert und die Plattform zwischen den Bäumen war über eine Leiter zu erreichen. Um mit der Umgebung zu verschmelzen, war die ganze Konstruktion braun und grün gestrichen. Ich kannte den Wachmann, der den Befehl gegeben hatte. Sein Name war Tom Connor und er war nur ein paar Jahre älter als ich, was man ihm in seiner Kaki-Uniform aber nicht ansah, zumal er gerade nach dem Gewehr griff, das er vor der Brust hängen hatte.
Er hatte uns beide nicht gesehen. Es war Miss Keyland, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Es war gar nicht lange her, da hatte er noch in ihrer Klasse gesessen. Jetzt richtete er ein geladenes Gewehr auf sie.
„Hallo, Miss Keyland!“, rief er viel freundlicher, nachdem er gesehen hatte, wer da kam. „Was machen Sie hier?“
„Ich wollte mal sehen, ob ich ein paar Pilze finde“, antwortete Miss Keyland. Wieder eine Lüge.
„Pilze? Da brauchen Sie aber viel Glück. Aber falls Sie welche finden, heben Sie welche für mich auf.“ Er hob sein Handgelenk. Alle Außenwachen trugen Uhren. „Ihnen bleiben noch anderthalb Stunden Tageslicht.“
„Danke, Tom. Ich werde rechtzeitig zurück sein.“
Jetzt kam der schwierige Teil. Wir würden nicht ungesehen am Wachturm vorbeikommen, aber wenn wir es versuchten und erwischt wurden, würde Tom ganz sicher Alarm geben … über seinem Kopf hing eine große Glocke. Wir mussten lange genug warten, bis Miss Keyland ein Stück weit fort war, aber nicht so lange, dass wir sie nicht wiederfanden. Es war alles eine Frage des Timings und im entscheidenden Augenblick – so hoffte ich zumindest – schubste ich Jamie voran und zeigte mich.
„Tom, bist du das?“, rief ich.
„Holly?“
„Hast du Miss Keyland gesehen?“, fragte ich mit meiner unschuldigsten Stimme. „Reverend Johnstone hat uns geschickt, damit wir ihr eine Nachricht überbringen.“
Ich konnte nur hoffen, dass Miss Keyland schon so weit weg war, dass sie mich nicht hörte. Wenigstens zweifelte Tom nicht an meiner Story. „Ihr habt sie gerade verpasst“, sagte er. Er drehte sich um und spähte durch die Bäume. „Da vorn ist sie!“ Er zeigte auf sie. „Ich kann sie zurückrufen, wenn ihr wollt.“
„Nicht nötig, wir finden sie schon.“ Jamie und ich sprinteten los. Tom winkte uns lächelnd hinterher.
Der Wald wurde immer dichter und undurchdringlicher. Die Zweige und Blätter schienen so miteinander verwoben zu sein, als wollten sie niemanden durchlassen. Wir konnten hören, wie sich Miss Keyland vor uns ihren Weg bahnte, aber als ich zurückblickte, musste ich feststellen, dass der Wachturm außer Sichtweite war. Wir kämpften uns noch ungefähr weitere zehn Minuten voran. Diesen Weg schlug ich nie ein, wenn ich auf die Jagd ging, und ich wollte es schon aufgeben, wollte nach Hause gehen und das Ganze vergessen. Wen interessierte es, was Miss Keyland machte? Wenn Jamie recht hatte und sie wirklich die Polizei informierte, würde er gehen müssen. Das hatte er doch ohnehin vorgehabt. Was genau wollte sie überhaupt hier, mitten in der Wildnis? Was brachte sie auf die Idee, dass sie hier irgendetwas finden würde?
„Da!“
Jamie hatte es zuerst gesehen und wir gingen hinter einem Busch in Deckung, der spitze Dornen statt Blättern hatte. Es stand auf einer Lichtung, was uns freie Sicht gewährte. Und es war leuchtend rot, was zwischen all den Grün- und Brauntönen natürlich hervorstach. Es war ein rechteckiger Kasten, dessen gerade Linien mitten im Wald fehl am Platz wirkten. Ich wusste genau, was ich da anstarrte. Ich hatte Abbildungen davon in Büchern gesehen.
Es war eine altmodische Telefonzelle, eine von denen, die irgendwann durch moderne Nachfolger aus Glas ersetzt worden waren, bis sie schließlich ganz verschwanden, weil jeder ein Mobiltelefon hatte. Was machte das Ding hier? Natürlich hatte es irgendwann einmal an einer Straße gestanden, aber die war sorgfältig entfernt worden. Die Telefonzelle war zurückgeblieben und sie sah vollkommen fremd aus, wie ein Besucher aus einer längst vergessenen Welt. Ich war schon unzählige Male im Wald unterwegs gewesen und hatte sie noch nie gesehen, aber andererseits hatte ich noch nie diesen Weg eingeschlagen. Woher wusste Miss Keyland davon? Konnte die Zelle wirklich noch
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