Horowitz, Anthony - Die fuenf Tore 5 - Zeitentod (Das Finale - Teil 1)
Gesicht passte. Obwohl er nie beim Schönheitschirurgen gewesen war, sah es aus, als hätte er sich liften lassen. Seine Haut glänzte so unnatürlich, als wäre er ständig verschwitzt, und irgendwie wirkte sie zu straff gespannt, was es ihm erschwerte, irgendwelche Emotionen zu zeigen. Er sprach mit einem hochnäsigen Privatschul-Akzent und vielleicht gab es einen Teil von ihm, der die Schule nie verlassen hatte. Seine Lippen waren stets zu einem leichten Lächeln verzogen. Er war sehr zufrieden mit sich, was er nicht verbergen konnte. Immerhin hatte er sich in den höchsten Bereich von Nightrise hochgearbeitet. Er war sogar einflussreicher als seine Mutter zum Zeitpunkt ihres Todes. Wieso sollte er also nicht mit sich zufrieden sein? Er war ganz oben auf der Karriereleiter.
Jonas Mortlake war nicht verheiratet und hatte keine Kinder. Die Vorstellung, einem anderen menschlichen Wesen nahekommen zu müssen, widerte ihn an. Vor allem verabscheute er Frauen mit ihrem weichen, wabbeligen Fleisch, ihren Emotionen, ihrer Schwäche und ihren ständigen Forderungen. Er warf einen Blick auf die Wirtschaftszeitung, die aufgeschlagen auf seinem Schoß lag, auf die winzige Schrift und die endlosen Zahlenreihen. Das waren die wirklichen Freuden des Lebens.
Er war aufgeregt.
Sosehr er Emotionen verabscheute, konnte er es doch nicht leugnen. Er war auf dem Weg zu einer Sitzung, auf die er sich schon seit Wochen freute. „ENDSPIEL“ hatte auf der Einladung gestanden, die natürlich keine Einladung war, sondern ein Befehl. Ihm war bewusst, dass irgendwo in diesem Verkehr noch Hunderte weitere Limousinen steckten, die Hunderte weiterer Männer und Frauen zur selben Veranstaltung beförderten. Sie alle waren zum Vorsitzenden von Nightrise bestellt worden, um ihn reden zu hören. Aber Jonas war etwas Besonderes. Man hatte ihm bereits gesagt, was geplant war, und nachdem der Vorsitzende seine überraschende Ankündigung gemacht hatte, sollte es ein Gespräch unter vier Augen geben, bei dem sich sein eigenes Schicksal entscheiden würde.
Es war gelungen, den Ochsen an den Straßenrand zu zerren, wo er nun lag, keuchend und mit weit aufgerissenen Augen. Einer der Polizisten blies in seine Trillerpfeife und gestikulierte wild, und irgendwie brachte das den Verkehr langsam wieder ins Rollen. Mortlake schaute kurz von seiner Zeitung auf. Draußen war wieder einer von diesen Freiluftmärkten, diesmal unter einer Überführung: noch mehr Kochtöpfe und Wasserträger – ein paar von ihnen erst sieben oder acht Jahre alt –, tief gebeugt unter der Last der Plastikkanister, die sie auf dem Rücken trugen und die sie verkrüppeln würden, bevor sie neun waren. Frauen in Shorts, tief ausgeschnittenen T-Shirts, Sandalen und mit billigem Schmuck, die nichts anderes zu verkaufen hatten als sich selbst, lehnten an den Betonsäulen. Bei Nacht würden farbige Glühlampen und offene Feuerstellen die Gegend beleuchten und vielleicht sahen diese Huren dann nicht mehr so grotesk und abstoßend aus.
Der Wagen bog um eine Kurve und sie kamen in Sichtweite des Flusses, auf dem sich ebenso viele uralte Boote drängten wie Autos auf den Straßen. Hier brannte die Sonne noch unerbittlicher. Sie wurde vom Wasser reflektiert, was alles hart und spröde wirken ließ. Der Qualm von vielen Dutzend Lagerfeuern am Ufer erweckte den Anschein, als stünde der gesamte Boden in Flammen. In diesem Teil der Stadt gab es keinen Strom und kein fließend Wasser. Die Menschen saßen zusammengesunken da. Sie hatten aufgegeben.
Schließlich erreichten sie ihr Ziel. Das Gebäude mit der berühmten gebogenen Front und den vielen Fahnen stand an der Plaza, die nach ihm benannt war.
Die Zentrale der Vereinten Nationen, in New York.
Zwei mit Maschinengewehren bewaffnete Wachen salutierten, als sich die Schranke hob und Jonas Mortlake passieren ließ.
9
Im großen Sitzungssaal gab es tausendachthundert Plätze, von denen fast alle besetzt waren. Jonas Mortlake war ein Stuhl in der zweiten Reihe zugewiesen worden, was er als gutes Zeichen ansah. Je weiter vorn man saß, desto wichtiger war man für die Firma. Auf dem Weg zu seinem Sitzplatz musterte er die bunte Menge. Viele Delegierte waren in ihrer Nationaltracht erschienen, hatten bereits Platz genommen und beobachteten gespannt die Bühne. Unter ihnen waren Araber in weißen Burnussen mit ihren traditionellen Kopfbedeckungen, Afrikaner in bunt gewebten Gewändern, Chinesen und Japaner in Seidengewändern, Inder
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