Horowitz, Anthony - Die fuenf Tore 5 - Zeitentod (Das Finale - Teil 1)
denken, ohne sie vor sich zu sehen – ihren langen dünnen Hals, die Brille, die Schweinsaugen. Sie wollte, dass er seine Kräfte dazu nutzte, ihr bei der Ermordung eines amerikanischen Senators zu helfen, und er hatte irgendwann zugestimmt. Ihm war alles recht, was die Schmerzen beendete. War das so schlimm?
Um die gleiche Zeit hatte Jamie viel erlebt. Er war aus einem Erziehungsknast in Nevada ausgebrochen, durch die Zeit gereist, hatte in der ersten Schlacht gegen die Alten gekämpft und auf der Gewinnerseite gestanden. Sein ganzes Leben lang hatte Scott auf Jamie aufgepasst, als wäre er der große Bruder, obwohl sie Zwillinge waren. Aber als Matt dann auf der Bildfläche erschienen war, war Scott abgemeldet. Jamie war der große Held und Scott der Loser, dem man nicht trauen konnte. Der schlimmste Moment war jedoch, als Matt beschloss, nur Jamie nach London mitzunehmen und Scott zurückzulassen.
Nein. Noch schlimmer war gewesen, dass Jamie sofort zugesagt hatte, ohne jede Diskussion. Nach allem, was sie gemeinsam durchgestanden hatten, hatte sich Jamie einfach von ihm abgewandt.
All diese wirren Gedanken gingen Scott durch den Kopf, als er in der Zelle lag, frierend und schmutzig in den Kleidern, die er nun schon wochenlang trug. Er musste wieder daran denken, wie er hergebracht worden war und sich gefragt hatte, was sie mit ihm machen würden.
Er und Pedro waren durch die Tür in Hongkong gekommen. Er sah es immer noch vor sich – das Zusammenbrechen der Mauern, den Sturm, der ins Innere des Tempels pfiff. Herausgekommen waren sie im Kreuzgang irgendeiner Kirche, die alt und verkommen aussah. Der Himmel war schmutzig grau und roch nach Asche. Hatte es in der Nähe ein großes Feuer gegeben? Jetzt ärgerte es ihn, dass sie nicht sofort umgekehrt waren, aber die fünf Sekunden Neugier waren ihnen zum Verhängnis geworden. Er hatte gerade etwas zu Pedro sagen wollen. Vielleicht ist das hier keine gute Idee. Vielleicht sollten wir versuchen, die anderen zu finden. Doch er kam nicht mehr dazu, die Worte auszusprechen. Plötzlich rannten Männer aus allen Richtungen auf sie zu, Figuren in schwarzen Uniformen mit Waffen in den Händen und weiteren, die ihnen am Gürtel hingen. Er hörte Geschrei. Dann traf ihn etwas an der Schläfe und die Welt drehte sich vor seinen Augen, als er zu Boden ging. Er versuchte, sich wieder aufzurappeln, aber jemand rammte ihm einen Fuß ins Kreuz. Seine Hände wurden gepackt und hinter dem Rücken gefesselt.
Er konnte nichts tun, als sie ihn hochhoben und ins Gebäude schleppten. Seine Vermutung, dass es sich um eine Kirche handelte, erwies sich als richtig – waren nicht alle Türen an irgendwelchen heiligen Orten? Er konnte Buntglasfenster sehen und eine Statue der Jungfrau Maria in einem blauen Kleid, die allerdings jemand verunstaltet hatte, indem er ihr die Augen ausgehackt hatte. Das Gebäude schien menschenleer zu sein. Das Einzige, was er hörte, waren die Kerle, die ihn gefangen genommen hatten und ihn jetzt eine Treppe hoch- und einen getäfelten Flur entlangschleiften. Bis dahin hatte noch keiner ein Wort zu ihm gesagt. Alles schien unglaublich schnell zu passieren.
Er hörte, wie ein Riegel zurückgezogen wurde, eine Tür öffnete sich. Er wurde in einen kleinen Raum gestoßen, der vielleicht einmal ein Büro oder eine Mönchszelle gewesen war. Er hatte einen Steinboden und ein winziges vergittertes Fenster, und die Einrichtung bestand aus einer Matratze und einem Plastikeimer. Er rechnete damit, dass sie Pedro mit ihm einsperren würden, aber wie sich herausstellte, blieb er allein. Einer der Männer kniete sich hin und Scott konnte fühlen, wie eine scharfe Klinge die Plastikfesseln an seinen Handgelenken durchtrennte. Seine Hände waren wieder frei. Ein anderer Mann stand direkt neben ihm – kahlköpfig, unrasiert und mit dunklen Augen. Scott drehte den Kopf und spuckte ihm ins Gesicht. Der Mann starrte ihn an und einen kurzen Augenblick lang war seine Wut unübersehbar. Aber anscheinend hatte er den strikten Befehl, dem Gefangenen kein Haar zu krümmen. Er straffte sich nur und ging hinaus.
Scott verbrachte in dem Raum die nächsten drei Tage. Das Fenster bot keine Aussicht, sondern nur den Blick auf eine Ziegelmauer, und er konnte die Tageszeit nur ungefähr am Licht, das von der Mauer reflektiert wurde, abschätzen. Niemand sprach mit ihm. Niemand ließ ihn aus seiner Zelle. Der Glatzkopf brachte ihm Brot und Wasser und gelegentlich einen Napf mit dünner
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