Horowitz, Anthony - Die fuenf Tore 6 - Feuerfluch
Lohan musste sofort wieder an die Spinne denken. Und an Schlangen. Sie gingen immer noch in die falsche Richtung. Der Regenwald spielte ihnen Streiche und lockte sie immer tiefer in seine grüne Umarmung. Der Pfad hinter ihnen war verschwunden. Es war, als wären die Bäume und das Gestrüpp immer näher gerückt und wollten mit aller Macht verhindern, dass sie den Rückweg fanden.
Und dann hörten sie die Geräusche, vor denen sie sich am meisten fürchteten. Jemand brüllte etwas. Die Aufseher hatten sie noch nicht entdeckt, aber sie waren nicht mehr weit weg. Wie viele waren es? Das war in dem grünen Albtraum, in dem sie steckten, schwer zu sagen, aber eines war sicher: Die Männer kannten den Regenwald besser als sie. Vielleicht hatten sie ihre Hunde dabei. Sie würden nicht lange brauchen, die beiden Gefangenen aufzuspüren.
Matt begann wieder zu taumeln und die Knie gaben unter ihm nach. Lohan legte einen Arm um ihn, nicht nur, um ihn auf den Beinen zu halten, sondern auch, um ihn vorwärtszuschieben, damit er sein Tempo hielt. Er geriet erneut in Versuchung, Matt zurückzulassen. Zum Glück schirmte die Vegetation sie von ihren Verfolgern ab und dämpfte alle Geräusche. Sie brauchten irgendein Versteck … einen Baum, auf den sie klettern, oder ein Loch, in das sie kriechen konnten. So konnte es nicht weitergehen, nicht solange er Matt mitschleppen musste. Allein hätte er bessere Chancen.
Er schob einen Vorhang aus Blättern zur Seite und erstarrte.
Es war unglaublich.
Er konnte nicht fassen, was er vor sich sah.
Der Regenwald endete so plötzlich wie ein Kapitel in einem Buch. Die Landschaft vor ihm war leer. So weit er sehen konnte – und er konnte kilometerweit sehen –, war alles flach und kahl und es ragten nur vereinzelte vermoderte Baumstümpfe aus der Erde. Es sah aus, als hätte ein Sturm den gesamten Regenwald weggefegt und nichts übrig gelassen. Doch noch während Lohan diese leblose leere Mondlandschaft anstarrte, dämmerte ihm die Wahrheit. Diese Verwüstung war mit voller Absicht angerichtet worden. Das waren Menschen gewesen. Sie hatten den Regenwald gerodet, um Rinderfarmen und riesige Plantagen anzulegen. Sie hatten Bananen, Mais und Sojabohnen angebaut, bis der Boden ausgelaugt war, und waren dann weitergezogen.
Es hieß, dass die Regenwälder die Lunge der Erde wären. Aber hier atmete nichts mehr. Der Serra Morte Mine waren ein paar Hektar Regenwald zum Opfer gefallen. Aber diese Rodung erstreckte sich bis zum Horizont und es würde einige Hundert Jahre dauern, bis diese Riesenwunde geheilt war. Lohan betrachtete die öde Landschaft beinahe staunend. Wer brauchte die Alten, um den Planeten zu vernichten, wo doch die Menschheit es auch allein schaffte?
„Lá são!“
Der Ruf kam von hinten und er war nahe genug, dass Lohan die Worte verstehen konnte. Umkehren kam nicht mehr infrage.
„Matt …“
„Geh weiter!“
Vielleicht hatte Matt Lohan geantwortet. Vielleicht hatte er aber auch mit sich selbst gesprochen. Auf jeden Fall setzten sie sich ohne das geringste Zögern in Bewegung, obwohl sie in dem offenen Gelände natürlich leichte Ziele waren, nirgendwo hinkonnten und keinen Anhaltspunkt hatten. Lohan war noch nie in einer so toten Landschaft gewesen. Es waren keine Vögel am Himmel. Sogar die Insekten hatten die paar Wurzeln und Ranken, die den Boden bedeckten, anscheinend verlassen. Es gab nur noch sie beide, Matt und ihn, die Arm in Arm vorwärtshasteten und auf die Kugeln warteten, die ihr Ende besiegelten.
Sie kamen an einen Weg, der eigentlich nur aus Reifenspuren bestand. Es war gut möglich, dass die Fahrspuren zum Flugfeld führten, aber sie konnten ihnen jetzt nicht folgen. Lohan schaute zurück und es geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Der erste Aufseher tauchte am Rand des Regenwaldes auf, sah sie und rief die anderen herbei. Außerdem tauchte ein Jeep auf und raste aus dem Unterholz auf sie zu. Er war mit vier Männern besetzt, die alle bewaffnet waren.
Es war vorbei. Lohan blieb stehen, wo er war, mit schweißüberströmtem Gesicht und vollkommen außer Atem. Er war bereit zu sterben. Eigentlich hatte er nie mit einem langen Leben gerechnet, aber er hatte auch nicht erwartet, dass man ihn mitten in Brasilien abknallen würde wie einen Hund. Er sah Matt an. Ob der Junge einen letzten Trumpf im Ärmel hatte? Aber Matt schien gar nicht zu registrieren, in welcher Gefahr sie schwebten. Der Jeep kam immer näher. Er würde in wenigen Sekunden bei ihnen
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