Hostage - Entführt
erreichten die Treppe. Jennifer nahm die ersten Stufen.
Mars ging schneller.
»Ich werde dir das Herz aus dem Leib schneiden. Aber erst das von deiner Schwester, damit du zuschauen kannst.«
»Bleib stehen!«
Angst durchzuckte Thomas wie elektrischer Strom. Er zitterte am ganzen Leib und pinkelte sich in die Hose. Er wollte nicht schießen. Er hatte Angst davor. Angst, das sei falsch, obwohl er um sein Leben fürchtete. Angst, dafür bestraft zu werden, in der Hölle schmoren zu müssen und zeitlebens als schlechter Mensch gebrandmarkt zu sein, der einen furchtbaren Fehler gemacht hat. Doch Mars kam näher, und in Thomas nahm die andere Angst Überhand – die Angst, nicht zu schießen; die Angst vor dem schrecklichen Messer und dem Blut, das überall tropfte und sich ausbreitete; die Angst, Mars würde es tatsächlich tun und ihm – und Jennifer – das Herz aus dem Leib schneiden und aufessen.
Thomas drückte ab.
Klick!
Mars blieb bei dem spitzen Geräusch reglos stehen.
Klick!
Die Pistole ging nicht los.
Alles, was sein Vater ihm auf dem Schießstand gezeigt hatte, kam ihm plötzlich wieder in den Kopf. Er zog den Schlitten kräftig zurück, damit eine Kugel in die Kammer glitt, doch der Schlitten rastete in geöffneter Stellung ein und ließ sich nicht mehr schließen. Thomas sah hinein – das Magazin war leer. Die Pistole war nicht geladen. Keine Kugeln. Keine Kugeln!
Als Thomas aufblickte, sah er Mars lächeln.
»Willkommen in meinem Albtraum.«
Jennifer schrie: »Lauf!«
Thomas warf die Pistole nach Mars und rannte hinter Jennifer die Treppe runter. Unten war die Luft zum Schneiden – es stank nach Benzin und Erbrochenem. Jennifer war als Erste an der Haustür und umklammerte den Griff, doch die Tür ließ sich nicht öffnen.
»Mach auf.«
»Zugesperrt! Wo ist der Schlüssel?«
Nicht im Schloss. Sondern oben. In Dennis' blutverschmierter Hosentasche. Das stand Thomas plötzlich mit furchtbarer Gewissheit vor Augen.
Mars kam die Treppe runtergestampft und näherte sich. Noch ein paar Sekunden, dann hätte er sie. Auf keinen Fall würden sie es bis zur Terrassentür oder zur Garage schaffen.
Jennifer zog Thomas am Arm.
»Hier lang! Los!«
Sie zerrte ihn Richtung Elternschlafzimmer. Er begriff, dass sie mit ihm zum sichersten Ort im Haus wollte, doch Mars kam näher, war schon in der Diele, war direkt hinter ihnen.
Thomas raste hinter seiner Schwester durch den Flur, durchs Elternschlafzimmer und in den Sicherheitsraum. Sie warfen die Stahltür zu und verriegelten sie in dem Moment, als Mars gegen die Tür rannte.
Stille.
Thomas und Jennifer hielten sich zitternd in den Armen. Das Einzige, was Thomas hörte, war sein schweres und schwerer werdendes Atmen.
Dann klopfte Mars gegen die Tür – dumpfe Geräusche, langsam und rhythmisch, die durch den kleinen Raum hallten. Bumm … bumm … bumm.
Jennifer drückte Thomas an sich und flüsterte: »Hier kann er uns nicht kriegen.«
»Ich weiß.«
»Wir sind in Sicherheit.«
Sein Vater hatte ihm gesagt, durch diese Tür könnte nichts und niemand kommen.
Das Klopfen hörte auf.
Mars begann zu schreien, doch seine Stimme drang nur gedämpft durch den Stahl.
»Ihr seid unartig, unartig, unartig. Jetzt werd ich euch bestrafen.«
Er schlug noch mal gegen die Tür und ging weg.
Thomas erinnerte sich an das Handy.
Er riss es aus der Tasche und schaltete es ein.
Das Telefon piepste.
»Thomas, sieh mal!«
Jennifer beobachtete Mars an den Bildschirmen. Er war in der Diele bei der Haustür, nahm die beiden Behälter mit Benzin, ging durchs Haus und spritzte es an die Wände. Dabei lächelte er.
Jennifer sagte: »Mein Gott – der will uns hier rösten.«
Das Handy piepste wieder, und Thomas sah aufs Display. Das Batteriezeichen blinkte.
Der Akku war so gut wie leer.
24
Samstag, 02:16
Mars
Mars schaltete im Vorbeigehen die letzten Lampen aus. In der Diele wurde es ganz dunkel. Dann im Büro. Dann im Herrenzimmer. Ihm war klar, dass die Polizei sah, wie das Licht Zimmer für Zimmer ausging, und sich fragen würde, warum.
Zuerst ging er in die Küche, entdeckte in einem Glas neben dem Gasherd Streichhölzer und blies die Zündflammen aus. Er spritzte Benzin auf Herd und Gasleitung und ging wieder ins Elternschlafzimmer, wobei er darauf achtete, an den Wänden eine durchgehende Benzinspur zu legen. Wie er es genoss, durch das Haus zu gehen! Die Dunkelheit machte ihn unsichtbar und damit mächtig. Die Nacht war sein Freund. Er
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