Hostage - Entführt
Eis auf die Wunde. Sie blutete nicht mehr, war aber rot und entzündet, und ein fieser blauer Fleck breitete sich immer weiter aus.
Thomas stupste Jennifer ans Knie.
»Warum wacht er nicht auf?«
Sie sah kurz zu Mars rüber, ehe sie antwortete. Der hatte den Schreibtisch ihres Vaters durchs Büro geschoben und saß so, dass er die Polizei im Blickfeld hatte.
»Keine Ahnung.«
»Wird er sterben?«
Auch Jennifer hatte diese Befürchtung, wollte das aber nicht sagen. Vielleicht hat er eine Gehirnerschütterung, dachte sie. Doch was wusste sie schon darüber? Nur, dass Tim – der Fänger der Baseballmannschaft ihrer High School – mal während eines Spiels eine Gehirnerschütterung erlitten hatte. Noch am Abend hatte er ins Krankenhaus gebracht werden müssen und dann zwei Tage im Unterricht gefehlt. Jennifer fürchtete, auch ihr Vater brauchte einen Arzt und sein Zustand könnte sich ohne medizinische Behandlung verschlechtern.
»Jen?«
Thomas stupste sie noch mal an und flüsterte hartnäckig weiter.
»Jen?«
Schließlich antwortete sie und versuchte, dabei zuversichtlich zu wirken.
»Ich glaube, er hat eine Gehirnerschütterung – mehr nicht.«
Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Mars sah kurz hin, machte aber keine Anstalten, den Hörer abzunehmen. Gerade als Dennis und Kevin wieder auftauchten, hörte es auf zu läuten. Dennis stierte erst auf ihren Vater, dann auf sie herab. Bei seinem Gesichtsausdruck wurde ihr unheimlich. Auch Kevin starrte so komisch.
Dennis hockte sich neben sie.
»Was macht dein Alter eigentlich beruflich?«
»Steuerberatung.«
»Er erledigt den Finanzkram für andere reiche Leute und hat mit ihrem Geld zu tun?«
»Sehr gut erklärt! Das machen Steuerberater eben.«
Jennifer war klar, dass sie ihn provozierte, und sie war auf seinen Ärger gefasst, aber Dennis schien sie zu taxieren. Dann schaute er kurz zu Thomas rüber und lächelte schließlich.
»Wie heißt du?«
»Jennifer.«
»Und weiter?«
»Smith.«
»Gut, Jennifer Smith. Und dein alter Herr?«
»Walter Smith.«
Dennis sah Thomas an.
»Und du, Fettsack?«
»Leck mich.«
Dennis zog Thomas am Ohr.
Der schrie seinen Namen heraus.
»Thomas!«
»Thomas Fettsack – wenn du mich verarschst, versohl ich dir den Hintern. Kapiert?«
»Ja, Sir.«
Dennis ließ sein Ohr los.
»Bist ein braver Fettsack.«
Jennifer hoffte, er würde sie beide jetzt in Ruhe lassen, aber nein. Er lächelte sie an und senkte die Stimme.
»Wir bleiben eine Zeit lang hier, Jennifer. Wo ist dein Zimmer?«
Sie bekam einen roten Kopf, und Dennis' Lächeln wurde breiter.
»Such dir einen andern für deine schmutzigen Gedanken, Jennifer – so hab ich's nicht gemeint. Sieht aus, als war dir kalt, nur im Bikini-Top. Ich hol dir ein T-Shirt, damit dein Luxuskörper nicht friert.«
Sie sah weg und errötete noch stärker.
»Mein Zimmer ist oben.«
»Gut. Ich hol dir was zum Anziehen.«
Dennis sagte Mars, er solle mitkommen, und die beiden verschwanden. Kevin ging ans Fenster.
Wieder läutete das Telefon, doch Kevin reagierte nicht. Es klingelte ewig weiter.
Thomas stupste sie wieder ans Knie.
Sie schaute ihn an. Er war totenbleich, nur um die Mundwinkel standen zwei rosafarbene Flecken. So sah sein Gesicht aus, wenn er wütend war. Sie wusste, dass er es nicht ausstehen konnte, Fettsack genannt zu werden.
Er stupste sie noch mal an und wollte etwas sagen. Sie vergewisserte sich, dass Kevin sie nicht beobachtete, und fragte dann so leise wie möglich: »Was?«
Thomas beugte sich vor und flüsterte kaum hörbar. Die rosafarbenen Flecken in seinen Mundwinkeln leuchteten.
»Ich weiß, wo Daddy eine Pistole hat.«
5
Freitag, 17:10
Glen Howell
Glen Howell gab nach dem fünfzehnten Läuten auf. Das gefiel ihm nicht. Er wurde erwartet und wusste, dass sein Gesprächspartner sonst immer ans Telefon ging, wenn er anrief. Er ärgerte sich darüber, dass der Kerl ausgerechnet diesmal, wo er selbst so viel Verspätung hatte, den Hörer nicht abnahm. In Glen Howells Welt wurden Verspätungen nicht hingenommen, und Entschuldigungen waren zwecklos. Die Bestrafung konnte hart ausfallen.
Howell hatte keine Ahnung, warum die Straßen nach York Estates verstopft waren, aber der Verkehr war zum Stillstand gekommen. Er vermutete, es lag wohl an einer gebrochenen Gasleitung oder etwas Ähnlichem. Warum sonst sollten sie die gesamte Gegend absperren, den Verkehr lahm legen und allen die Zeit stehlen? Reiche Leute mochten keine
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