Hotel Mama vorübergehend geschlossen
Richtungen, und wer kein bestimmtes Ziel hatte, scharte sich um den weißhaarigen Herrn. Er war es auch, der Tinchen festhielt, als sie aus der Tür schlüpfen wollte. »Der harte Kern trifft sich immer noch auf einen kleinen Plausch in der Weinstube gleich um die Ecke. Hätten Sie nicht Lust, mitzukommen? Wir sind nämlich alle ein bißchen neugierig auf Ihren Neffen, über den bereits die wildesten Gerüchte herumgehen. Sie reichen vom illegitimen Sproß eines orientalischen Potentaten bis zum millionenschweren Waisenkind, das von einem Internat in das nächste geschoben wurde. Dem widerspricht allerdings die Aussage meines Sohnes, der Björn für einen gar nicht eingebildeten, leider äußerst mittelmäßigen Schüler hält. Ich weiß das deshalb, weil Thorsten heute früh von ihm die lateinischen Hausaufgaben abgeschrieben und sich eine Vier minus eingehandelt hat.«
»Er hätte es besser bei den englischen machen sollen«, sagte Tinchen sofort, »das spricht Björn nämlich fließend. Ich fürchte nur, es ist das einzige Fach, in dem er nicht zur unteren Hälfte des letzten Drittels gehört.«
»Na, prächtig! So besteht ja berechtigte Aussicht, daß sie ab nächstem Schuljahr die neunte Klasse gemeinsam wiederholen dürfen!« Dann stellte er sich vor. Er heiße Werner Evert, sei Rechtsanwalt und nebenberuflich Elternvertreter, »allerdings nur einmal und nie wieder! Bei der letzten Vollversammlung wurde unter anderem zwei Stunden lang debattiert, wieviel es kosten würde, die Wände vom Aufenthaltsraum mit schallschluckenden Platten zu belegen und auf diese Weise den Lärm zu dämpfen!« Plötzlich lachte er. »Die Zeiten haben sich wirklich mächtig geändert! Als ich noch ein Junge war, da haben sie den Lärm bei
mir
gedämpft!«
Erst hatte Tinchen gezögert, sich dann aber doch zum Mitgehen entschlossen. Bestimmt war es besser, die haarsträubenden Gerüchte über Björns Herkunft auszuräumen und ganz nebenbei ein paar Kontakte zu knüpfen, denn er brauchte nicht nur eine Familie, sondern auch Freunde. Und wenn dieser Thorsten ein bißchen was vom Humor seines Vaters geerbt hatte, müßte er doch eigentlich ein ganz patenter Bursche sein. Ganz abgesehen davon wäre es auch ganz vorteilhaft, im Bekanntenkreis einen Anwalt zu haben, man weiß ja nie, wann man mal einen braucht. Noch besser wäre natürlich ein Arzt gewesen, schon wegen Toni, die das seit jeher bedauert hat. Nach ihrer Ansicht gehört zu einer Großfamilie immer jemand, der Medizin studiert hat, notfalls ein Eingeheirateter. Man will ja nicht wegen jedem kleinen Wehwehchen zum Arzt laufen, aber wenn es einen irgendwo zwickt, möchte man doch ganz gern wissen, ob's was Ernstes ist, und ein Familienmitglied kann man ruhig danach fragen. Sogar telefonisch. Außerdem kriegen Ärzte immer gratis Medikamente, die sie natürlich bei Bedarf weitergeben müssen, sonst wissen sie ja nicht, ob das Zeug auch hilft. Und wo könnten sie das besser ausprobieren als innerhalb der Familie? Sicher, im Bender-Clan gab es einen Mediziner, aber der zählte ja nicht. Erstens lebte er viel zu weit weg in Süddeutschland, und zweitens war er Neurologe. Frau Antonie kannte niemanden, der jemals einen Neurologen hatte in Anspruch nehmen müssen (Psychiater ja, da hätte sie genug aufzählen können, die einen brauchen würden, doch das war ja wieder was anderes), also nützte der Professor Clemens in Tübingen überhaupt nichts!
Als Tinchen an jenem Abend gegen halb zwölf nach Hause kam, war Florian noch nicht da und Björn schon im Bett. Jetzt konnte sie ihn nicht mal fragen, ob es richtig gewesen war, daß sie den Thorsten Evert für Freitag zum Essen eingeladen hatte. Natürlich hatte sie im Laufe des Abends seinem Vater gegenüber erwähnt, auf welche Weise Florian seine Brötchen verdiente, und war auf lebhaftes Interesse gestoßen. Thorsten wollte nämlich Journalist werden, ein Wunsch, der angeblich schon seit einem halben Jahr anhielt, was seinen Vater allmählich von der Ernsthaftigkeit überzeugte. »Astronaut und Aquanaut hatte er schon mit elf Jahren wieder abgehakt, ›Computer-Erfinder‹ wie Bill Gates hat auch nicht lange gehalten, weil er mitgekriegt hatte, daß man dazu Mathe braucht, und die kann er nicht. Danach kam die Zeit der Profi-Sportler, er war sich nur nicht darüber im klaren, was mehr Geld bringt, Fußball oder Tennis, deshalb hat er es mit keinem von beiden auch nur mal versucht, und dann hat er beschlossen, gleich auf einen Schlag
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