Hotel Nirgendwo - Roman
Zimmer weiter wohnte Tante Slavica mit ihren beiden Söhnen. Mario war still und in sich gekehrt, Dejo war jünger und frecher. Kaum sah er ein Mädchen, wollte er ihm sofort an den Hintern oder an den Busen fassen, den wir damals nicht einmal hatten, aber das war ihm offenbar nicht aufgefallen. Es lief jedoch nicht ganz nach seinen Vorstellungen, weil wir es immer irgendwie schafften, uns seinen Berührungen zu entziehen. Dann wollte er auf die gleichen Körperstellen einschlagen, was damals richtig wehzutun anfing. Wir hassten ihn alle, aber in dieser Zeit wuchs ich sehr schnell und war schon bald einen Kopf größer als er, deshalb ließ er mich irgendwann in Ruhe.
Tante Slavica trug immer grellfarbige T-Shirts und enge Jeansröcke und war sehr dick. Ihre Dauerwelle war richtig versengt, und sie hatte kräftig angemalte rote Lippen. Sie pflegte auf dem Flur herumzustehen, meistens mit ihrem Nachbarn Kaja, und laut zu lachen, manchmal regelrecht zu brüllen. Manche hassten sie, weil sie glücklich und weil sie jetzt ihre beste Zeit hatte. Früher hatte ihr Mann sie geschlagen, sie waren arm und lebten in einer Hütte ohne Bad. Dann kam er ums Leben. Sie erhielt seine Pension, kaufte sich einen Kassettenrecorder und sang bei offener Tür so laut sie nur konnte. Sie kam nie in unser Zimmer und fragte auch nie, wie es uns ging.
Im Zimmer neben Deja lebte meine Freundin Marina mit ihrer Mutter und Schwester. Dann teilte man ihnen ein weiteres Zimmer zu. In diesem Herbst fanden die letzten Dienstwechsel in Vukovar statt, ihr Vater wurde entlassen und kam nach Zagreb. Wir hockten den ganzen Vormittag vor ihrer Tür und warteten darauf, dass sie endlich herauskam und uns erzählte, was genau passiert war.
Als wir schließlich unverrichteter Dinge zum Mittagessen aufbrechen wollten, machte sie die Tür auf und schenkte uns zwei riesige Tüten Bonbons. Sie hatte rote Wangen, lächelte und sagte, ihr Vater habe eine Stunde lang in der Dusche gebraucht, um die erste Dreckschicht abzuwaschen. Ich erkundigte mich nach meinem Vater, wollte wissen, ob er denn etwas über ihn gesagt habe. Sie hatte vergessen, ihn zu fragen.
*
Da wir als letzte angekommen waren, kannte ich noch niemanden. Schon an der Rezeption hatte ich aber viele Kinder in meinem Alter gesehen. Nachdem ich zwei, drei Tage ausschließlich im Zimmer verbracht hatte, entschied ich mich, mir draußen alles genauer anzusehen, und fing an, mich auf den dunklen, kalten Fluren herumzutreiben. Der Betonkomplex, in dem wir nun lebten, war riesig und man konnte sich leicht verlaufen. Dunkelheit, das ist das, woran ich mich am besten erinnern kann. Es gab nirgendwo Fenster, nur in den Zimmern, und aus der Dunkelheit tauchten alle paar Minuten die Köpfe alter Menschen hervor, die lautlos in den Katakomben spazieren gingen. Ich nahm die Feuerwehrtreppen und lief hinunter ins Erdgeschoss. Am Ende des Flurs sah ich einen Jungen und ein Mädchen. Ich fing an, ihnen zu folgen, als ginge es ums reine Überleben. Mir kam es vor, als würden auch sie ihr neues Zuhause erforschen, und ich wollte um jeden Preis in ihrer Nähe sein. Sie begannen sich nach mir umzudrehen und dabei irgendetwas zu flüstern. »Hey, du armes Ding! Was hast du denn für Strümpfe an! Du hast Beine wie ein Storch«, warf mir das Mädchen zu. Ich antwortete nicht. Einen Moment lang blieb ich stehen, aber nur, um ihnen gleich wieder beharrlich zu folgen. Nach ein paar Minuten sagte dann der Junge: »Na, gehst du mit uns in die Küche Bananen klauen?« – »Okay«, sagte ich.
Das waren meine ersten Freunde. Biljana und Ivan. Biljanas Eltern waren geschieden. Ihr Vater war am Meer, sie war mit ihrer Mutter hier gelandet. Ihre Mutter beschützte sie vor allem und jedem, ununterbrochen, denn sie hatten beide das Lager überlebt. Ich glaube, dass sie gerade wegen dieser übertriebenen Fürsorge so dünn, drahtig und durchsichtig geworden ist. Sie war so schmal, dass sie fast unsichtbar war, aber wenigstens kümmerte man sich um sie. Ich war glücklich, dass sie mit mir befreundet sein wollte. Später habe ich sie vergessen.
Ivan hatte auch nur seine Mutter, die zwar die richtige Frau seines Vaters, aber nicht mit diesem verheiratet war. Als er ums Leben kam, erhielt die Familie nicht einmal eine Pension. Diese ging an die andere Familie, mit der Ivans Vater nie zusammengelebt hatte. Ivan schlief oft in den Sesseln an der Rezeption. Er klaute manchmal Eis und andere Kleinigkeiten, und dann fingen
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