Hotel Nirgendwo - Roman
Auch ihre italienische Familie war wohlhabend und hatte ihr alles gekauft, was sie sich wünschte. Sie wurde genauso wie ich für den nächsten Sommer eingeladen, ihre Gastfamilie hatte ein Wochenendhaus in der Schweiz. Ihre richtige kroatische Familie bestand aus ihrer Mutter und ihrem Bruder, die beide an Diabetes litten. Die drei konnten sich gerade noch aus dem Krankenhaus von Vukovar retten, einen Tag bevor die Stadt fiel, ihr Vater war in den Wirren des Krieges verschwunden, genau wie meiner, und wurde seitdem vermisst. Ihr Bruder war ein paar Jahre älter als sie und setzte ihr genauso zu wie meiner mir, wir hatten also einiges gemeinsam. Nur dass ihr Bruder ein bisschen verrückter war als meiner, er wettete damit, dass er lebende kleine Fische aß, und wenn er auf Toilette ging, zog er sich jedes Mal nackt aus, ganz egal, was er machte, sie sah das einmal zufällig durchs Schlüsselloch. Eines Tages erhitzte er einen Dinar auf der Herdplatte und legte ihn ihr in die Hand. Auch mein Bruder quälte mich und musste dafür nie geradestehen.
Ich wartete, dass sich eine Gruppe älterer Omas endlich von der Stelle bewegte, damit ich mir die Wochenspeisekarte anschauen konnte. Es gab Hamburger und Tee. So stand es da. Als dieses Gericht das erste Mal auf der Karte auftauchte, waren wir am Abend vorher alle ganz aufgeregt und fragten uns, wo es denn so etwas gab, Hamburger zum Frühstück. Die meisten Kinder stellten sich schon um sieben Uhr morgens an, doch das taten sie nur dieses eine und letzte Mal. Auf jedem Teller erwarteten uns zwei dicke weiße Scheiben Speck. Sorte: Hamburger. So erklärte es uns die fettige Köchin. »Was gibt’s? Habt wohl noch nicht davon gehört, was!? Was für ein gebratener Hamburger denn um Himmels willen!?« Sie lachte aus vollem Halse, und spätestens jetzt wussten wir, dass hier einfach alles möglich war, vor allem, dass die auf der Tageskarte aufgeführten Speisen nicht unbedingt dem entsprechen mussten, was später auf dem Teller landete. Und wenn es an einem Freitag Fisch zum Mittagessen gab, tischte man uns abends Pasta mit Käse auf, den man aber trotz beharrlicher Suche einfach nirgends finden konnte. Dafür waren aber, als nahrhafte Beilage, jede Menge Fischgräten darin versteckt.
Die Schlange ging nur mäßig voran, und ich schaute immer wieder zu Jelena. An den anderen Tischen saßen ganz viele Kinder, aber sie suchte sich einen leeren Tisch aus und setzte sich dort alleine hin. Als wir zu Brot und Besteck vorgedrungen waren, sagte ich Mama, dass ich mich zu Jelena setzen wollte. »Habt ihr denn nicht genug in Italien miteinander geredet?« Noch bevor Mama ihren Satz zu Ende sprechen konnte, ließ ich sie und meinen Bruder stehen und rannte zu Jelena. Ich spürte, dass sie mir beide verdattert nachsahen, denn wenn keine Schule war, frühstückte ich sonst immer mit ihnen zusammen. Ich setzte mich Jelena gegenüber. »Ciao«, sagte sie. – »Come stai?«, fragte ich. – »Bene, e tu?«, setzte Jelena noch einen drauf. Alle schauten zu uns herüber.
Wir waren anders.
*
Die Sommer in Zagorje zogen sich zäh in die Länge. Es gab keinen Fluss, kein Meer, nur unendlich viele Mücken, und der Mistgeruch war das Schlimmste von allem, man konnte sich einfach nicht daran gewöhnen. Nur nachts konnte man gut schlafen, das sagten jedenfalls die, die schnell einschlafen konnten. Meine Mama konnte das nicht. Und Željkas Mama auch nicht. Sie wälzte sich unzählige Male hin und her, und mein Bruder und ich konnten ihren Atem hören. Manchmal zündete sie sich eine Zigarette an, das beruhigte mich, denn ich hatte irgendwo aufgeschnappt, dass Zigaretten zwar ungesund, aber gut für die Nerven sind, und das ließ mich hoffen. Ich hatte das Gefühl, dass sie nicht schlief, sondern einfach nur steif in ihrem Bett lag und abwesend war. Mein Bruder steckte den Kopf unter das Kopfkissen, drehte uns den Rücken zu und schlief immer gleich ein. Mama bekam Schlaftabletten verschrieben und nahm sie von da an regelmäßig. Ich glaube, sie hat nie so viel geschlafen wie zu der Zeit. Wieder und wieder erzählte sie, dass sie wegen der Kinder und ihrer Schwiegermutter in der Fabrik vor Müdigkeit kaum stehen konnte. Sie sagte, um halb vier Uhr morgens, wenn der Wecker klingelte, habe ihre Seele immer noch geschlafen. Damals lebten wir bei Oma und Opa, und das Haus war sehr weit weg von ihrem Arbeitsplatz. Wenn sie nach Hause kam, musste sie für uns alle kochen und die Wäsche mit
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