Hotel Nirgendwo - Roman
wollte mir alles genau einprägen, stellte mir vor, dass auch ich eines Tages solche Kleider besitzen und verheiratet sein würde. Ich würde ein rotes Seidenkleid haben, mit Pünktchen, ein Kleid, in dem man sich drehen und in dem man die ganze Nacht durchtanzen konnte. Tagsüber würde ich mein gelbes Trägerfrotteekleid anziehen, zu meiner Nachbarin rübergehen und mit ihr bis tief in die Nacht hinein Kaffee trinken und plaudern. Ich malte mir aus, worüber wir tratschen würden, über Todesfälle und Hochzeiten, über das Leben der einen oder anderen geliebten Person, wir würden uns erzählen, wer wann und wie gekündigt worden war und was nun zu tun war und so weiter und so fort. Meine Tochter würde zu meinen Füßen liegen und so tun, also ob sie spielt. Ungefähr so sahen damals meine Tagträume aus. Ich erinnere mich gut an diese Zeit und an das Foto meiner Mutter, auf dem sie den Mantel trägt. Immer wenn ich bei meiner Großmutter war, bat ich sie, mir Mamas Hochzeitskleid zu zeigen, und wenn ich mir den Brautschleier lange genug angesehen hatte, holte ich die Schachteln mit den anderen Fotografien hervor und betrachtete sie stundenlang.
Auf allen Fotos suchte ich immer zuerst Mama. Das älteste Bild zeigte sie im Alter von fünf Jahren, es war eine Schwarz-Weiß-Aufnahme; sie stand vor einem Lattenzaun, sah grimmig drein, trug ein neu genähtes Blümchenkleid und blinzelte in die Sonne. Hinter ihr sah man ein an den Zaun gelehntes Fahrrad mit riesigen Rädern, wegen dem ihr Vater sie zum ersten Mal geschlagen hatte, es waren Prügel, an die sie sich noch heute erinnerte. Sie und ihre zwei Jahre ältere Cousine hatten sein Fahrrad geliehen, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen, weil sie den Dorfhügel hinunterfahren wollten. Ihre Cousine lenkte und Mama saß auf dem Gepäckträger. Nach nicht einmal einer Sekunde landeten sie im Schlamm. Dabei schafften sie es, das Vorderrad aus den Angeln zu heben. Opa konnte mit dem Fahrrad nicht mehr zur Arbeit fahren. Sobald er meine Mutter in die Hände bekommen hatte, schlug er so heftig auf sie ein, dass es ihm selbst die Tränen in die Augen trieb. Oma erzählte mir die Geschichte ebenfalls mit Tränen in den Augen, und ich schwor mir, es ihm eines Tages heimzuzahlen, irgendwann, wenn ich erwachsen war.
Auf einem anderen Foto sah man Mama in einer Großstadt, in Belgrad, mit einem breiten Lächeln, sie trägt ein Trikot, und neben ihr sind auf dem Bild zehn weitere Mädchen zu sehen, aber meine Mutter erkenne ich trotzdem sofort. Sie sind auf einem Ausflug. Auf der Fotografie, an die ich mich am besten erinnern kann, ist Mama einige Jahre älter. Darauf sieht sie gar nicht aus wie sie selbst, sondern wie eine weit entfernte, aufregende, heißblütige und mir unbekannte Person. Man sieht Mama auf einem Hügel, die Beine leicht auseinander, sie trägt hautenge Schlaghosen, die sie selbst Glockenhosen nannte, und ein eng anliegendes schwarzes Oberteil. Ihre dichten schwarzen Haare fallen ihr bis zur Rückenmitte. Es ist eine Profilaufnahme, sie sieht sehr feminin und anziehend darauf aus, scheint aber völlig desinteressiert und tut so, als würde sie auf etwas zielen, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan als auf etwas zu zielen. So sieht, denke ich, eine Frau aus, die ein Gewehr in der Hand hält. Eine Kriegerin aus einer anderen Welt. Prinzessin Leah aus Star Wars . Das Gewehr ist ein Luftgewehr, und meine Mama geht in die erste Klasse der Mittelschule, wo sie als Wahlfach »Schießen« belegt, zusammen mit ihrer Freundin Dragica, die ihre besten Freundin ist. Sie lernen schießen, weil ein gewisser Tomo das auch macht.
Auf einer anderen Fotografie sieht man eine sehr selbstbewusste junge Frau in einem atemberaubend kurzen roten Minirock, auf dem Foto ist es inzwischen nur noch ein ärmliches Grau, aber da ich tausendmal nachgefragt habe, weiß ich, dass er ursprünglich einmal rot gewesen ist. Sie steht in der Mitte zwischen ihren Freundinnen Dragica und Željka, sie lächeln, und Mama hat eine Hand hinter ihrem Rücken, wo sie bestimmt eine Zigarette versteckt. Obwohl es warm ist, trägt sie Stiefel mit riesigen Absätzen. Im Hintergrund kann man ein Schwimmbad erkennen, wo eine Tanzveranstaltung stattfindet. Die jungen Frauen lächeln auf dem Foto, weil es ihnen gelungen war, dem Busfahrer zu entkommen, der ihren Fahrschein sehen wollte, so wurde es mir zumindest später erzählt. Sie behaupteten, kein Kleingeld zu haben, und sprangen lachend in
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